Schelm ohne Gesicht

Piere Lemaitre: Wir sehen uns dort oben

Mit drei unterschiedlichen Charakteren haben wir es in dem Buch »Wir sehen uns dort oben« von Pierre Lemaitre zu tun. Da ist einmal der skrupellose Schurke, der bereit ist, für seinen Erfolg über Leichen zu gehen, dann der naive Tor, unbeholfen, etwas zu gut für diese Welt und schließlich der gerissene, aber an sich gutmütige Schelm. Drei Charaktere, drei Personen, vom Schicksal aneinandergekettet, ohne es zu wollen.

Der Schurke ist Leutnant d’Aulnay-Pradelle, der Tor heißt Albert Maillard und die Rolle des Schelms übernimmt Édouard Péricourt. Gleich zu Beginn haben alle drei ihren Auftritt. Es ist November 1918, kurz vor dem Ende des ersten Weltkriegs. Pradelle stammt aus einem verarmten Adelsgeschlecht, ist Offizier der französischen Armee und hatte gehofft, durch den Krieg Ehre, Ruhm und vor allem Geld zu erlangen. »Mit seiner aristokratischen Art wirkte er schrecklich zivilisiert, zugleich schien er abgrundtief brutal. Ein bisschen so wie dieser Krieg. Vielleicht kam er deshalb so gut darin zurecht.« Durch das nahende Ende des Krieges sieht er seine Felle davonschwimmen und bricht mit einem perfiden Trick einen letzten Sturmangriff seines Regiments vom Zaun. Albert und Édouard sind einfache Soldaten und müssen wohl oder übel zum letzten Mal in diesem Krieg ihr Leben riskieren. Während des Angriffs gerät Albert mit Pradelle aneinander und wird von ihm in einen tiefen Granattrichter gestoßen. Er versucht verzweifelt, sich die lehmig-glatten Wände hinaufzuziehen, rutscht immer wieder ab. Und wird durch einen weiteren Einschlag von einer Erdfontäne verschüttet und lebendig begraben. Kurz bevor er stirbt, findet ihn Édouard, gerade noch rechtzeitig für Albert. Und verhängnisvoll für seinen Retter, denn in dem Moment, als Albert wieder zu sich kommt, wird Édouards Gesicht von einem Granatsplitter zerfetzt. Wenige Tage später ist der Krieg zu Ende.

Mit diesem dramatischen Einstieg haben wir die drei Hauptfiguren des Buches kennengelernt. Wir treffen sie wieder im Lazarett, in dem der rasch genesene Albert sich aufopferungsvoll um seinen Lebensretter kümmert. »Der Granatsplitter hat ihm den gesamten Unterkiefer weggerissen. Unterhalb der Nase ist nichts, man sieht den Hals, den Gaumen und das Zahnfleisch mit den oberen Zähnen, darunter ein scharlachroter Fleischbrei und ein Etwas, ganz  hinten, das muss die Stimmritze sein, keine Zunge mehr, die Speiseröhre ein feuchtes rotes Loch. Édouard Péricourt ist dreiundzwanzig Jahre alt

An dieser Stelle musste ich innehalten und tief Luft holen, zu unvermittelt stand dieses Bild im Raum. Ein zerstörter Körper und ein zerstörtes Leben. Albert hilft Édouard, wo er nur kann, er pflegt ihn, besorgt ihm Morphium, um die Schmerzen und seine Verzweiflung zu lindern. Auf Drängen Édouards, der sich ohne Unterkiefer und Zunge nur schriftlich äußern kann, vertauscht Albert dessen Wehrpass mit dem eines gefallenen Soldaten. Édouard will mit seiner Verunstaltung seinem Vater und seiner Schwester nie wieder unter die Augen treten müssen und taucht mit diesem Trick unter. Offiziell ist er gefallen, Albert schickt seine Hinterlassenschaften mit einem Brief an seine Familie. Damit beginnt ein Verwirrspiel voller dramatischer Wendungen.

Denn Édouard, ungeliebter Sohn seines Vaters, stammt aus einer steinreichen Familie. Seine Schwester Madeleine will seinen Leichnam verbotenerweise exhumieren und in der Familiengruft bestatten. So wendet sie sich an Albert, der, nachdem Édouard in ein richtiges Krankenhaus verlegt wurde, inzwischen in einem Camp für entlassene Soldaten untergebracht ist, wo er wie viele andere auch auf seine Demobilisierung wartet. Dabei lernt sie Pradelle kennen, der das Spiel durchschaut, aber nichts verrät. Albert hofft weder Madeleine noch Pradelle je wiederzusehen. Aber natürlich kommt alles ganz anders.

Im weiteren Verlauf des Buches erleben wir mit, wie sich Albert und Édouard gemeinsam durch das Leben schlagen, ein Leben voller Armut und Entbehrungen. Albert ist zunehmend verzweifelter, Édouard ist inzwischen hochgradig morphiumabhängig; »er war einfach nur eine leere Hülle, wunschlos, lustlos, vielleicht sogar ohne Gedanken.« Zur gleichen Zeit heiratet Pradelle Édouards Schwester Madeleine, sichert sich damit seinen gesellschaftlichen Aufstieg und steigt in das Geschäft mit Leichenumbestattungen im großen Stil ein. Denn Frankreich besinnt sich seiner gefallenen Helden und der Staat lässt alle ehemaligen Frontfriedhöfe auflösen, um die toten Soldaten würdiger zu beerdigen. Hiermit lässt sich viel Geld verdienen, Leichen müssen ausgegraben, Särge gezimmert, transportiert und wieder bestattet werden. Pradelle sichert sich dieses Geschäft und drückt bei der Durchführung die Kosten wie und wo es nur geht – man kann sich denken, dass dies mit Würde und Respekt vor den Toten nichts mehr zu tun hat. Ihm geht es nur um schnell verdientes Geld. Wird er damit durchkommen? Vielleicht, denn es ist die Zeit der Betrüger.

Überall sind die Folgen des Krieges spürbar und die Straßen von Paris sind voller junger Männer, die alt und verbraucht aussehen, denen ein Arm, ein Bein, manchmal beide Beine oder andere Körperteile fehlen. Sie leben im Elend, für die überlebenden Helden ist kein Geld da. Eine furchtbare Zeit, in allen europäischen Metropolen dasselbe Bild, Kriegskrüppel, die niemand mehr braucht, um die sich niemand kümmert. Und mittendrin Albert und Édouard. Der plötzlich eine durchtrieben geniale Idee hat, um an Geld zu kommen. Viel haben wir bis dahin über Édouards Heranwachsen erfahren und plötzlich ist er wieder der spitzbübische junge Mann, der er einst vor dem Krieg war. Und doch auch wieder nicht, denn seine Idee ist voller Zynismus, ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen gegen das unerbittliche Schicksal.

Die Handlung beginnt sich zuzuspitzen, Édouard und Albert, der immer gewissenloser agierende Pradelle, Édouards Schwester Madeleine, sein Vater, das Dienstmädchen Pauline, der friedhofskontrollierende Regierungsangestellte Merlin und viele andere Personen tauchen in diesem Reigen auf, der immer zügiger auf sein dramatisches Ende zustrebt.

Ich habe das Buch heute um die Mittagszeit zu Ende gelesen und auch jetzt noch, Stunden später, bin ich mitten in der Geschichte, bin mitten im Paris des Jahres 1920. Die Mischung aus Düsternis, schonungslosen Details, aber auch einer gehörigen Portion Sarkasmus hatte mich in ihren Bann gezogen. Stilistisch bewegt sich das Buch in Richtung eines Schelmenromans. Aber eines solchen, bei dem einem als Leser das Lachen im Halse stecken bleibt. Denn Édouard mit seiner schrecklichen Verwundung hatte ich ständig vor Augen.

Der Pazifist Ernst Friedrich veröffentlichte 1924 das Buch »Krieg dem Kriege«, in dem er zahlreiche Photos von Gefallenen oder Schwerstverwundeten abdruckte. Zehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wollte er damit die Öffentlichkeit an die Schrecken erinnern, damit sie sich nicht noch einmal wiederholen würden – leider eine vergebliche Hoffnung. In diesem Buch sind Bilder verschiedener Soldaten enthalten, die ähnliche Verstümmelungen davongetragen haben wie Édouard. Schon diese Photos sind schwer zu ertragen. Wie mag es erst den Menschen ergangen sein, die diese Verwundungen erlitten hatten? Wie würde es einem selbst in dieser Situation ergehen? Eine grauenvolle Vorstellung, die der Person Édouards noch mehr Gestalt verleiht. Diese Bilder – die beschriebenen Photos und das von Édouard im Kopf des Lesers – , dazu der verrohte Umgang mit den zahllosen gefallenen Soldaten und  die unwürdige Behandlung der Verwundeten halten in Lemaitres großartigem Roman dem Krieg einen Spiegel vor. Und nichts Heroisches findet sich darin, sondern nur Tod, völlige Verzweiflung und eine irrsinnige Verschwendung von Menschenleben.

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.

Buchinformation
Pierre Lemaitre, Wir sehen uns dort oben
Aus dem Französischen von Antje Peter
Verlag Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-98016-5

#SupportYourLocalBookstore

8 Antworten auf „Schelm ohne Gesicht“

  1. Da hat sich „Social-Reading“ insoweit gelohnt, dass ich dies nun zum Anlass nehme, den Roman wieder in die Hand zu nehmen und zu Ende zu bringen. Ich hatte ihn nach 200 Seiten unter- bzw. abgebrochen. Mir fehlte irgendwann der Spannungsbogen. Alle Typen blieben unverändert und keiner erschien aus dem bis hier hin (200 Seiten) absehbaren Weg irgendwann noch eine spannende Abzweigung zu finden. Nun, ich war wohl zu ungeduldig und lasse mich jetzt gerne noch mal darauf ein. Denn geschrieben ist der Roman wirklich gut.

  2. Ich danke dir sehr herzlich für die Besprechung, die ich nur überfolgen habe, da ich heute selbst das letzte Drittel des Buches angesprochen habe und deine Rezension erst, wenn ich fertig bin, in Gänze lesen möchte. Bisher lese ich den Roman aber sehr gerne. :-)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert