Papiergewordene Geschichte

Papiergewordene Geschichte

Im Laufe der Jahre sammeln sich viele Bücher an, bei denen man sich irgendwann fragt, warum man sie eigentlich besitzt. Sei es ein Mängelexemplar, das man für zwei Euro neunundneunzig erworben hat, weil einem irgendwie der Klappentext gefiel, seien es Bücher aus Haushaltsauflösungen, von Flohmärkten, Geschenke, belanglose Krimis, die man für eine längere Bahnfahrt noch schnell im Bahnhof gekauft hatte; Bücher, die man einmal unbedingt lesen wollte, die dann aber schon zwanzig Jahre im Regal stehen, weil sie einen dann doch nicht interessierten. Und. Und. Und. Gleichzeitig wird der Platz eng, ständig fließt ein Strom neuer Bücher in die Regale und auf die Stapel davor.

Deshalb ist es notwendig, den begrenzten Platz optimal zu nutzen und regelmäßig alle Regalmeterblockierer auszusortieren. Diese Bücher werden verschenkt, in öffentliche Bücherschränke gebracht oder in seltenen Fällen auch einfach zum Altpapier gegeben. Gleichzeitig ist dieses Durchforsten auch jedes Mal wieder eine Entdeckungsreise – man kommt vor lauter Anlesen und Blättern nicht schnell voran. Und das ist jedes Mal ein Genuß.

Und dann gibt es auch noch die besonderen Schätze, diejenigen Bücher, die mich zum Teil schon sehr lange begleiten und die ich niemals weggeben würde. Es sind alte Bücher, die ich in Antiquariaten gefunden habe, aber auch Fundstücke aus Kartons in Hauseingängen oder auf Fensterbrettern. Bei ihnen kommt es nicht auf den Inhalt an, vielmehr erzählen sie selbst Geschichten. Oder sind ein Stück papiergewordene Geschichte, sei es durch Widmungen, Stempel, Bibliotheksaufkleber oder Erscheinungsjahre. Für mich sind dies wahre Schmuckstücke, auch wenn sie meist auf den ersten Blick recht unscheinbar wirken. Für diesen Beitrag habe ich ein paar davon aus dem Regal geholt und zeige hier, was sie so besonders macht.

Papiergewordene Geschichte

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern
1947. Suhrkamp Verlag, vorm. S. Fischer  Verlag, Berlin

Die bibliographischen Angaben sind ein Stück Zeitgeschichte. 1935 wurde der renommierte S. Fischer Verlag von den Nationalsozialisten zerschlagen. Der Verleger Gottfried Bermann Fischer arbeitete von Österreich aus mit den in Deutschland verfemten Autoren weiter; später floh er mit seinem Bermann-Fischer-Verlag nach Stockholm. Peter Suhrkamp führte in Deutschland die Geschäfte des S. Fischer Verlags fort – unter genauer Beobachtung durch die braunen Machthaber. 1942 erfolgte zwangsweise die Umbenennung in »Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer«, 1944 wurde Suhrkamp von der Gestapo verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gesperrt. Er überlebte den Krieg und war im Oktober 1945 der erste Verleger, der von den Alliierten die Lizenz zur Weiterführung des Verlags erhielt – der immer noch den von den Nazis erzwungenen Namen »Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer« trug. 1950 erfolgte die Gründung des eigentlichen Suhrkamp Verlags, während der S. Fischer Verlag wieder seine Geschäfte aufnehmen konnte. Mein Exemplar von Stefan Zweigs posthum veröffentlichter Autobiographie stammt aus jener Zwischenzeit, als Europa in Trümmern lag. Ursprünglich erschienen war es wiederum bei Bermann-Fischer 1944 in Stockholm. Diese Hintergrundgeschichte, aber auch das billige, holzhaltige Papier des Buches – Zeichen des Mangels jener Jahre – sind Symbole, dass auch in Zeiten der Finsternis die Kultur des Wortes fortlebt, überlebt, dass es weitergeht. Irgendwie.

Papiergewordene Geschichte

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues
1929. Propyläen-Verlag, Berlin

Eine alte Ausgabe von Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues« zu finden, ist nicht schwer; es gibt sie regelmäßig in Antiquariaten oder auf Flohmärkten. Das Buch in meinem Besitz ist allerdings eine Art Familienerbstück. Mein Großvater – den ich nie kennengelernt habe – erhielt es 1929 vermutlich von einem Arbeitskollegen, zumindest deutet dies die Widmung an. Als es 1933 verboten wurde, hat er es behalten und irgendwo im Haus versteckt, obwohl er als SA-Mitglied wohl überzeugter Nazi gewesen sein muss. Viele Jahre später habe ich es als Siebzehnjähriger in die Hände bekommen. Und obwohl dies die Zeit in meinem Leben war, in der mich Bücher kaum interessierten, habe ich »Im Westen nichts Neues« ein um das andere Mal gelesen. Dessen Lektüre war einer der maßgeblichen Gründe für meine Wehrdienstverweigerung. Jetzt, wo ich dies schreibe, fällt mir auf, dass aus diesem Grund der Roman eigentlich auch zur Liste der Bücher meines Lebens gehören müsste, die ich hier vor einiger Zeit vorgestellt habe.

Papiergewordene Geschichte

Prof. Dr. Eduard Rothert: Karten und Skizzen aus der vaterländischen Geschichte der letzten 100 Jahre
1907. Verlag August Bagel, Düsseldorf

Dieser Geschichtsatlas ist ein Lehrwerk, vermutlich für Gymnasien bzw. höhere Schulen aus dem Jahr 1907. Im Mittelpunkt stehen Schlachten und Feldzüge, aber es sind auch wirtschaftspolitsche Karten enthalten. Der Zeit entsprechend sind die Begleittexte in einem verklärenden, die militärischen Taten glorifizierenden Ton gehalten. Der Atlas erinnert an die Geschichtsstunden, wie sie von Remarque in »Im Westen nichts Neues« geschildert werden, in denen der Lehrer bei Kriegsausbruch 1914 an die Vaterlandsliebe der Abiturienten appelliert und sie dazu bringt, sich geschlossen freiwillig zu melden. Was kaum einer von ihnen überleben wird. Das Besondere an diesem äußerlich ziemlich zerfledderten Flohmarktfund sind aber die Notizen und Skizzen des damaligen Besitzers. Aus drucktechnischen Gründen sind die Rückseiten der im Spezialverfahren gehefteten Aufklappkarten weiß geblieben. Diesen freien Platz hat er für akribische Zeichnungen und Erläuterungen von antiken Schlachten genutzt – Marathon, Termophylen, Cannae und viele mehr. Außerdem ist noch die Quittung der Buchhandlung erhalten, in der das Buch 1911 gekauft wurde. Ein mich faszinierendes Stück Zeitgeschichte.

Papiergewordene Geschichte

Herman Melville: Moby Dick oder der weisse Wal
1942. Büchergilde Gutenberg, Zürich

»Moby Dick« ist für mich eines der großartigsten Werke der Weltliteratur und in meinem Buchregal finden sich die unterschiedlichsten Ausgaben. Irgendwann wird es darüber einmal einen eigenen Blogbeitrag geben, aber für diesen Text passt die Version perfekt, die 1942 in der Büchergilde Gutenberg erschienen ist. Und zwar in Zürich. Denn zu diesem Zeitpunkt existierte die Büchergilde Gutenberg in Deutschland nur noch als Schatten. 1924 gegründet  hatte sich diese Buchgemeinschaft auf die Fahnen geschrieben, Angehörigen der Arbeiterklasse einen Zugang zu gut ausgestatteten und trotzdem erschwinglichen Büchern zu schaffen. Und damit Menschen aus den nicht-privilegierten Gesellschaftsschichten Zugang zu Bildung und Wissen zu ermöglichen. 1933 wurde die Büchergilde nahezu aufgelöst, die Reste dann in die NS-Organisation der »Deutschen Arbeitsfront« eingegliedert. Das Zürcher Büro führte den Betrieb mit einer Neugründung weiter und erhielt damit das gesamte Projekt am Leben. Aus dieser Zeit stammt die wunderschöne Moby-Dick-Ausgabe aus dem Jahr 1942. Heute ist die Büchergilde Gutenberg eine Genossenschaft – und es erscheinen dort nach wie vor Bücher in gehobener Ausstattung zu erschwinglichen Preisen.

Papiergewordene Geschichte

Edith Zenker (Hrsg.): Wir sind die Rote Garde. Sozialistische Literatur 1914 bis 1935 – Eine Anthologie.
1967. Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig

Zwischen 1997 und 2001 studierte ich in Leipzig Verlagswirtschaft. Es war eine spannende Zeit, die acht Jahre davor hatte ich in Freiburg im Breisgau verbracht und genoß es sehr, die süddeutsche Heile-Welt-Idylle gegen eine ostdeutsche Großstadt im Umbruch eingetauscht zu haben. Es war auch das Gefühl, in Leipzig viel näher an der Geschichte zu sein; man war umgeben von Relikten vergangener Epochen und eines verschwundenen Staates. Einmal lag in unserer Fachschafts-Bibliothek ein Stapel ausrangierter Bücher, darunter diese Anthologie. Im Vorsatz steht ein Stempel in Frakturschrift: »Bücherei der Fachschule für Bibliothekare ›Erich Weinert‹, Leipzig«. Die beiden Bände sind eine Textsammlung sozialistischer Schriftsteller, die das Hohelied auf den Kampf der Arbeiterklasse singen. Erschienen waren sie im Jahr 1967. Sie enthalten Schriften von Menschen, die an eine bessere Welt glaubten und wurden veröffentlicht in einem Staat, dessen Führung auf Menschen schießen ließ, die ihm den Rücken kehren wollten. Und der damit damit jegliche moralische Legitimität verloren hatte. Als ich sie fand, wirkten sie wie ein ferner Nachhall. Und sind jetzt eine Erinnerung an meine Zeit in Leipzig.

Papiergewordene Geschichte

B. Traven: Der Schatz der Sierra Madre
1927. Büchergilde Gutenberg, Berlin
B. Traven: Die Brücke im Dschungel
1929. Büchergilde Gutenberg, Berlin

Die Identität des Autors B. Traven, der in den Zwanzigerjahren mit seinen sozialkritischen Abenteuerromanen außerordentlich erfolgreich war, ist bis heute eines der großen Rätsel der Literaturgeschichte. Dass sich hinter dem Pseudonym wohl der Revolutionär Ret Marut versteckte, der 1919 nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik aus Deutschland fliehen musste und in Mexiko untertauchte, gilt inzwischen als einigermaßen sicher. Doch wer dieser Ret Marut (ein Akronym für Armut?) wirklich gewesen ist, das konnte bis heute niemand hundertprozentig herausfinden. Von Mexiko aus wurde B. Traven ein weltweit gefeierter Erfolgsautor, sein deutscher Hausverlag war die Büchergilde Gutenberg, der er über Umwege seine Manuskripte zukommen ließ. Zwei von Travens Büchern – »Der Schatz der Sierra Madre« und »Die Brücke im Dschungel« – stehen auch in meinem Bücherregal. Sie stammen aus den Jahren 1927 bzw. 1929 und es ist ein faszinierender Gedanke, dass zur Zeit ihres Erscheinens jener geheimnisvolle Unbekannte irgendwo in Mexiko an seiner Schreibmaschine saß, seine Bücher in Berlin gedruckt wurden und ich sie Jahrzehnte später auf einem Flohmarktstand in Leipzig finden konnte. Das Papier der hervorragend verarbeiteten Bände ist auch 90 Jahre später noch immer leuchtend weiß, das Leinen der Umschläge nicht ausgeblichen; im Impressum steht »Copyright 1927 by B. Traven, Tamaulipas (Mexico)«.

Ich könnte noch eine ganze Weile so weitermachen, doch das würde den Rahmen eines Blogbeitrags sprengen. Aber ich glaube, ich habe eines zeigen können: Bücher sind nie einfach nur gedruckte Texte, sie sind Objekte der Zeit, in der sie veröffentlicht wurden, sind Zeugen der Geschichte, überdaueren ihre ursprünglichen Besitzer und gerade ihre Gegenständlichkeit macht sie zu etwas Besonderem.

Nachtrag, knapp zweieinhalb Jahre später: Ich habe weitergemacht und es gibt inzwischen den Teil zwei der papiergewordenen Geschichte(n).

17 Antworten auf „Papiergewordene Geschichte“

  1. Lieber Uwe!

    Du hast es mal wieder geschafft, dass ich auf meine alten Schätze einen ganz neuen Blick werfe. So erlaube ich mir wieder die Frechheit und werde Deine Idee bei passender Gelegenheit von Dir „klauen“: Es hat ja auch schon ganz wunderbar bei „Die Bücher meines Lebens“ funktioniert!

    Vielen Dank für diesen Beitrag!

    Herzlichen Gruß
    Andreas

  2. Hallo Uwe,
    da weiß man ja gar nicht, was interessanter ist: die Bücher an sich oder die Geschichten dazu?
    Wieder einmal ein sehr schöner Beitrag über die Freuden des Lesens und des Bücherhabens.
    Viele Grüße
    Norman

  3. Hallo Uwe,
    vielen Dank für diesen wunderbaren Einblick in dein Bücherleben und die Geschichten, die du mit den einzelnen Büchern erzählst. Du hättest ruhig noch weitererzählen können, ich hätte bestimmt weitergelesen.
    LG
    Petra

  4. Danke für den Einblick in die Schätze der Bücher-Sammlung.
    Stefan Zweig und die Geschichte des Suhrkamp und S. Fischer Verlags. Ebenso die Büchergilde und Reclam Leipzig.

    Remarque: Der sympathische Deutsch-Lehrer fragte vor über vierzig Jahren, welche Bücher wir denn gerne lesen wollten, doch „Im Westen nichts Neues“ oder „Der Funke Leben“ waren nicht im Kanon des Kultusministeriums, wiewohl Inspiration der Kriegsdienstverweigerer.

    Danke und Grüße

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert