Im Rausch der Sprache

Lutz Seiler: Kruso

174 Tote, 4522 Festnahmen. Das sind die Menschen, die versuchten, aus dem großen Gefängnis, dass sich Deutsche Demokratische Republik nannte, über die Ostsee zu entkommen. Nach Dänemark, dessen Küste von der Insel Hiddensee aus am Horizont zu sehen ist. Dazwischen das Meer. Eine unüberwindlich wirkende Barriere, doch gleichzeitig die Verheißung von Freiheit unter einem grenzenlosen Himmel. Hiddensee lag irgendwo dazwischen, nicht mehr ganz das Festland mit all seinen Zwängen, aber auch nicht wirkliche Freiheit angesichts der Patrouillenboote und Suchscheinwerfer. Doch eine kleine Welt für sich, mit eigenen Regeln. Lutz Seiler erzählt in seinem Buch »Kruso« die Geschichte von Edgar Bendler, genannt Ed, der im Sommer 1989 auf dieser Insel strandet.

Im Dunst vor der Küste liegend war Hiddensee ein Sehnsuchtsort für alle in der DDR, die ihr altes Leben so weit wie es nur ging hinter sich lassen wollten, so weit wie es in diesem Staat mit seinen undurchlässigen Grenzen eben möglich war. »Am Ende aller Reden schien Hiddensee ein schmales Stück Land von mythischem Glanz, der letzte, der einzige Ort, eine Insel, die immer weiter hinaustrieb, außer Sichtweite geriet – man musste sich beeilen, wenn man noch mitgenommen werden wollte.« Nach dem Unfalltod seiner Freundin war Ed, Student in Halle an der Saale, aus dem Leben gefallen und auf der Flucht vor sich selbst. Verwirrt und orientierungslos landet er nach einer mehrtägigen Reise auf Hiddensee, schläft am Strand und versucht, sich in einem der Hotels als Saisonkraft zu verdingen, die einzige Möglichkeit, auf dieser Insel außerhalb der begehrten und reglemtierten Urlaubsplätze unterzukommen.

Ed hat Glück, er landet als Abwäscher im »Klausner«, einer Pension oben auf Hiddensees Steilküste, gelegen wie ein Schiff, eine Arche, für ihn die letzte Rettung. Die Arbeit im Abwasch ist ein wahrer Knochenjob, Spülmaschinen gibt es keine, stundenlang muss eingeweicht, geschrubbt, getrocknet, poliert werden, die Hände weichen auf, die Fingernägel lockern sich. Dort trifft Ed auf Alexander Krusowitsch, den alle Kruso nennen, ebenfalls Abwäscher, auf Hiddensee aufgewachsen und ungekrönter inselweiter Anführer der Esskaas. Esskaas, wie SK, die offizielle Abkürzung der Saisonkräfte. Ed wird Krusos Gehilfe, sein »Freitag«, denn die Namensgleichheit mit dem berühmtesten Schiffbrüchigen der Literaturgeschichte ist natürlich gewollt. Schon bald entdecken die beiden eine innere Verbindung, auch Kruso hat Menschen verloren, die ihm wichtig waren, dunkle Flecken auf seiner Seele, bis heute. Eine enge Freundschaft entsteht daraus, »im Ganzen war es mehr als Vertrautheit und mehr als Vertrauen. Im Grunde war es eine gemeinsame Fremdheit, die ihre Freundschaft begründete. Dass es ihnen beiden unmöglich war, über das zu sprechen, was ihnen am schwersten auf der Seele lag, schien sie enger aneinander zu binden, als jedes Geständnis. Es gab die Worte eben nicht, und Verstehen bedeutete, sich nicht zu täuschen darüber

Kruso führt Ed in die wunderliche Welt der Esskaas ein, mit all ihren Ritualen und Gebräuchen, ein eigenes Volk auf einer eigenen Insel. Im Mittelpunkt steht die »Vergabe«, denn es gibt Dutzende von anderen Gestrandeten auf der Suche nach einem Zipfel Freiheit. Sie werden von den Esskaas auf illegale, geheime Schlafplätze aufgeteilt, werden so gut wie es eben geht versorgt, so dass sie zumindest für eine kurze Zeit den Geschmack der ersehnten Freiheit kosten können. Für die Esskaas sind sie wie Schiffsbrüchige, »sie alle gehören nicht mehr wirklich zum Land, sie haben das Land unter ihren Füßen verloren. Sie waren Pilger auf Pilgerschaft zum Ort ihrer Träume, dem letzten Ort der Freiheit innerhalb der Grenzen.« Im Zentrum aller Aktionen steht Kruso, der jeden kennt, alles organisiert, an den offiziellen Stellen vorbei, ohne Kontakt zu »den Betriebsurlaubern, jenen anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse

Ed gerät in einen Wirbel, voller Arbeit, voller Eindrücke, betäubend und belebend gleichzeitig. Es ist wie ein Rausch, ein Rausch, der niemals enden soll. Lutz Seiler, der als junger Mann selbst im Abwasch des »Klausner« gearbeitet hat, zieht uns mit seiner Sprache in diesen Rausch hinein. So beschreibt er seitenlang den Irrsinn im Hochbetrieb an den Spülbecken, die Hitze, den Schmutz der Essenreste, die Hektik, das gemeinsame Deklamieren von Gedichten inmitten des Chaos, wundgescheuerte Hände, über allem ein Radio mit einem Westsender, man liest es gebannt, selbst fast wie in einem Rausch, in einem Leserausch, durch eine Sprache, die einen ganz eigenwilligen Sog entfaltet.

Doch es ist der letzte Sommer der DDR, irgendwann sickern die Nachrichten von Flüchtlingen in der westdeutschen Botschaft in Prag durch, von dem Abbau der Grenzanlagen zwischen Ungarn und Österreich. Die wilde Welt des Klausners, der Esskaas und Hiddensees, die Illusion einer Freiheit inmitten der Unfreiheit beginnt zu bröckeln und sich aufzulösen. Der Herbst naht und mit dessen Kommen verschwindet ein ganzes Land, alles wird auf eine seltsame Art konturlos. Und weder Ed noch Kruso können ahnen, was das Schicksal für sie bestimmt hat.

Lutz Seiler hat mit diesem Buch ein Denkmal geschaffen. Ein Denkmal für die Menschen, deren Suche nach Freiheit stärker war als staatliche Zwänge. Für die Menschen, die sich inmitten einer Welt, zu der sie nicht gehören wollten, ihre eigene Welt schufen. Und für diejenigen, die noch einen Schritt weiter gingen und das mit ihrem Leben bezahlten: Die vergessenen Toten der Ostsee.

Ursprünglich hatte ich das Buch nur am Rande wahrgenommen, trotz der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2014. Aber als ich vor drei Wochen wie so oft eine der drei Buchhandlungen betrat, die fußläufig in meiner Mittagspause erreichbar sind, begrüßte mich die Buchhändlerin mit den Worten »Das wird Ihnen gefallen« und drückte mir »Kruso« in die Hand. Ein perfekter Empfang und eine großartige Empfehlung, die mir ein echtes Leseerlebnis, ja einen Leserausch bescherte. Und so etwas kann einem eben nur in einer Buchhandlung passieren. In einer echten Buchhandlung.

Buchinformation
Lutz Seiler, Kruso
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42447-6

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7 Antworten auf „Im Rausch der Sprache“

  1. Ich beschäftige mich ja nun relativ intensiv mit dem Deutschen Buchpreis, doch ich muss zugeben: Kruso ist das einzige Buch der Shortlist, das mich tatsächlich reizt. Vielleicht hat es ein bisschen mit der Heimat zu tun (ich bin auf Rügen aufgewachsen); vor allem aber weckt das, was Feuilleton und Blogs zu Kruso schreiben, meine Neugier. »Im Rausch der Sprache«, so lautet deine Überschrift – und genau das ist es, was ein Roman bestenfalls in mir auslöst, seine Sprache versetzt mich in einen rauschhaften Zustand. Seilers Roman fällt mir bestimmt bald in die Hände, und dann bin ich gespannt, ob er mich zu berauschen vermag.

    1. Da bin ja sehr gespannt, wie dir das Buch gefallen wird. Ich hatte ein paar Startschwierigkeiten, aber dann hat es mich völlig in seinen Bann gezogen. Zwar stamme ich genau vom anderen Ende Deutschlands, war aber sehr oft auf dem Darß und liebe diese Luft, diese Mischung aus Meer- und Kiefernduft. Die riecht man, wenn man das Buch liest…

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