Stolz noch im Verfall

Marc Mielzarjewicz: Lost Places Leipzig

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war Leipzig eine der wichtigsten deutschen Industriestädte und einer der bedeutendsten europäischen Handelsplätze. Industrie und Handel, beides prägte das Stadtbild der Gründerzeit und der folgenden Jahrzehnte. Da Leipzig im 2. Weltkrieg »nur« zu einem Drittel zerstört wurde, sind viele Spuren dieser Zeit noch sichtbar, auch wenn die sozialistische Planwirtschaft fast genauso verheerende Auswirkungen hatte wie der Krieg.

1997 bin ich nach Leipzig gezogen. Ich kam von der Freiburger Heile-Welt-Idylle in eine Stadt im Umbruch. Der Niedergang des Industriestandorts Leipzig hatte durch die Mangelwirtschaft der DDR bereits Jahrzehnte zuvor begonnen. Maschinen konnten aufgrund fehlender Ersatzteile nicht repariert werden, an eine Modernisierung der Infrastruktur war nicht zu denken. Die Fabriken und Zweckbauten der Gründerzeit, die architektonisch schon beinahe Palästen ähnelten, prägten das Bild, konnten oftmals aber auch nur mühevoll instand gehalten werden. Als sich die DDR auflöste, wurde eine ganze Volkswirtschaft abgewickelt, die mafiösen Machenschaften der Treuhand und zwielichtige Investoren versetzten zahllosen Betrieben den Todesstoß. Auch diejenigen, die sanierungsfähig gewesen wären, wurden stillgelegt. Tausende von Arbeitsplätzen gingen verloren. Die Industriepaläste aber fielen in einen Dornröschenschlaf. Inzwischen ist Leipzig wieder eine der schönsten Großstädte Deutschlands, die Innenstadt leuchtet und glitzert. Aber fernab der Besucherpfade stehen sie immer noch da, die alten Fabriken, halb zerfallen, verwittert, wartend, stolze Zeugen einer einst großen Zeit.

Und so fand ich sie vor, als ich begann, die für mich neue Stadt zu erkunden. Verwunschene Plätze. Immer wieder war ich in den Ruinen unterwegs. Teilweise waren sie noch halb eingerichtet, in den Büros standen Schreibtische, Aktenordner lagen auf dem Boden verstreut. Reste von Maschinen standen in den riesigen Hallen. Es waren Ausflüge in eine verschwundene Zeit. Und genau diese Atmosphäre hat der Photograph Marc Mielzarjewicz in seinem wunderbaren Band »Lost Places Leipzig« festgehalten. Man kann sich sicherlich meine Begeisterung vorstellen, als ich das Buch bei einem meiner letzten Leipzigbesuche dort in einer Buchhandlung entdeckte. Musste ich haben!

Der Photograph führt uns durch großartige Industriearchitektur, die noch halb zerfallen majestätisch und beindruckend daherkommt. Zu jeder photographierten Fabrik gibt es einen kurzen Text, der über die Geschichte des Gebäudes informiert. Beeindruckende Schwarzweißphotos bringen dem Betrachter eine verschwundene Welt nahe, die »Leipziger Ruinenwelten«, so das Vorwort des Buches. Stolz noch im Verfall. Bei allen photographierten Gebäuden ist außerdem die Adresse und ein Lageplan angegeben. Allerdings ist in die meisten davon in der Regel kein Hineinkommen. Zumindest nicht offiziell. Aber Hindernisse sind da, um überwunden zu werden.

Buchinformation
Marc Mielzarjewicz, Lost Places Leipzig
Mitteldeutscher Verlag
ISBN 978-3-89812-651-9

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Bonustrack: Auf Phototour in Leipzig-Plagwitz

Letztes Jahr suchte ich nach einer Fabrik in Leipzig-Plagwitz, in der ich schon zwölf Jahre zuvor unterwegs gewesen war. Und es gab tatsächlich noch einen Zugang. Und perfektes Spätnachmittagslicht. Und ich hatte meinen Photoapparat dabei. Die Ergebnisse dieser Photoexkursion gibt es als Bonustrack hier.

7 Antworten auf „Stolz noch im Verfall“

  1. danke für diesen wunderbaren artikel und den hinweis auf dieses buch.

    ich war ende september zum ersten mal in leipzig und war begeistert. diese stadt atmet spürbar jahrhunderte …

    weitere besuche werden folgen.

    lg,
    monika

  2. Die Freiburger Heile-Welt-Idylle, hehehe. Danke für den schönen und spannenden Artikel! Ich beneide dich geradezu um deine Leipziger Erkundungen. Gelebte Urban Exploration in einem sicherlich wahnsinnig spannenden Umfeld. Wunderbar auch wieder einmal deine Fotografien – und der Titel „Stolz noch im Verfall“. Bin begeistert.

    1. Wow, vielen Dank für das Lob! Das war in der Tat eine unglaublich spannende Zeit, an die ich oft zurückdenke. Und jedes Mal, wenn ich in Leipzig bin, entdecke ich auch nach all den Jahren wieder eine interessante Ecke – es ist einfach eine großartige Stadt. Wobei ich Freiburg nicht Unrecht tun möchte – dort lebte ich acht Jahre, die ich sehr genossen habe. Aber irgendwann war es Zeit, weiterzuziehen…

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