Lyrik aus dem Hinterhalt

Lord Alfred Tennyson: Ulysses

Einen tiefergehenden Zugang zu Lyrik hatte ich nie. Und werde ihn wohl auch nie haben. Trotzdem gibt es immer wieder ein Gedicht, das mich berührt. Oder auch nur eine Gedichtzeile, die unter die Haut geht und im Kopf bleibt. Das passiert oft ganz unvermittelt, hinterrücks, völlig überraschend und in Situationen, in denen man absolut nicht damit rechnet. Zum Beispiel, wenn man sich einen James-Bond-Film ansieht. So geschehen gestern bei »Skyfall«.

Mitten in dem actionreichen Spektakel gibt es eine Szene mit der wunderbaren Judi Dench als M., der Leiterin des britischen Geheimdiensts und Bonds Vorgesetzte. Sie steht vor einem Ausschuss und muss sich rechtfertigen. Auf der einen Seite die Bürokraten und überheblich wirkenden Politiker, auf der anderen Seite M., die über lange Jahre die ungeliebte Arbeit im Dunkeln für genau diese Bürokraten und Politiker gemacht hat. Es entbrennt ein heftiger Streit, Politik und Bürokratie sitzen dabei am längeren Hebel.

Dann kommt die grandiose Stelle: Judi Dench,77, langjährige Bühnenschauspielerin der Royal Shakespeare Company mit ihrem faltenreichen und ausdrucksstarken Gesicht zitiert ein Gedicht. Und das hat mich begeistert! So begeistert, dass ich den Film gestoppt habe, um das Gedicht noch einmal anzuhören. Und noch einmal. Dann habe ich es mitgeschrieben.

Hier ist es:

Sind wir auch länger nicht die Kraft,
die Erd‘ und Himmel einst bewegte,
so sind wir dennoch was wir sind;
Helden mit Herzen von gleichem Schlag,
geschwächt von Zeit
und von dem Schicksal;
doch stark im Willen
zu ringen, zu suchen, zu finden.
Und nie zu weichen.

Tho‘ much is taken, much abides;
and though we are not now that strength
which in old days moved earth and heaven;
that which we are, we are;
one equal temper of heroic hearts,
made weak by time and fate,
but strong in will to strive, to seek, to find.
And not to yield.

Es ist ein Auszug aus »Ulysses« von Lord Alfred Tennyson. Eine Ode an das Älterwerden. Und ein überraschendes Lyrik-Erlebnis. Wunderschön.

14 Antworten auf „Lyrik aus dem Hinterhalt“

  1. OMG – Danke!!!! Ich habe diesen Bericht zwar jetzt erst gefunden – aber ich stimme ihnen vollkommen zu. Seit ich es das erste Mal von Judy Dench in Skyfall gehört habe – egal ob in Deutsch oder Englisch, finde ich es so wunderschön. Außerdem gibt es Skyfall noch einmal einen besonderen Touch. Das gleiche gilt für das Ende von No Time to Die, als Ralph Fiennes den Spruch von Jack London zitiert.

    1. Gute Frage. Da ich lediglich aus dem Film zitiert habe, weiß ich leider nicht, auf Grundlage welcher Übersetzung dort synchronisiert wurde.

  2. Hier bin ich auf Umwegen gelandet, weil mich Helen Mirrens Interpretation dieses Gedichts so beeindruckt hat. Zu finden ist es über youtube. Gibt man da „Mirren Tennyson“ ein, ist ihre Lesung in der Stephen Colbert Show ganz oben in der Trefferliste.
    Da ist der Schluß des Gedichts pur – ohne die Action des Bond-Films und für mich noch beeindruckender.

  3. Ich würde diese Zeilen von Alfred Tennyson nicht so sehr und nicht allein auf das Älterwerden beziehen, sondern auf eine nicht leichte Lebenssituation schlechthin und Schicksalsschläge, die auch schwächen, in jedem Alter. Zudem, denke ich, geht es um Treue zur eigenen Auffassung von Dingen, zu Überzeugungen. Auch sind die Schlusszeilen in eine Zukunft gerichtet und intendieren weniger ein Ende …

    Nicht zu vergessen, dass mancher Künstler in hohem Alter noch Meisterwerke geschaffen hat.

  4. Es trifft es wie kaum etwas, wenn man eben noch die Welt bewegte und nun, wie aus dem Nichts, alt geworden ist. :-)

    Lord Tennyson hat diesen bittersüssen Prozess in seine wunderbaren Worte gefasst und Judy Dench hat das Gedicht nochmal auf eine besondere Ebene gehoben.

    „Skyfall“ wäre auch ohne diese Szene ein „grosser“ Bond geworden, langfristig wird er meines Erachtens wegen dieser Szene „Goldfinger“ als Nr.1 ablösen. Auch bei mir. ;-)

  5. Ich mag den Begriff Lyrik nicht. Ich bevorzuge Poesie. Das Wort klingt für mich einfach besser. Eine Zeitlang – oh, welch eine komische Schreibweise! (Der Computer möchte diese Schreibweise nicht akzeptieren) – habe ich auch Gedichte geschrieben. Aber dafür braucht man Ruhe und Muße.

  6. Dem neuen James Bond kann ich so gar nichts mehr abgewinnen, aber M finde ich unerreicht gut. Danke dir, dass ich jetzt die Schauspielerin kenne und weiß, daß sie zur Royal Shakespeare Company gehört (oder gehörte?). Damit ist für mich klar, warum ich sie so gut finde. ;)

    1. Tja, so sind die Geschmäcker verschieden, ich finde Daniel Craig den besten James Bond von allen. Aber Judi Dench als M ist schon noch einmal eine ganz andere Liga und unerreicht gut.

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