Leseprojekt Herkunft und Heimat

Leseprojekt Herkunft und Heimat

Ich bin der Sohn eines Flüchtlings. Der Enkel von Flüchtlingen. Und der Ur-Ur-Ur-Urenkel einer Flüchtlingsfamilie, dadurch ist ein großer Teil meiner Familiengeschichte kaum noch rekonstruierbar. Meine Ahnen mütterlicherseits waren Religionsflüchtlinge, sie zogen um 1700 als vertriebene Hugenotten aus Frankreich quer durch Europa bis nach Westpreußen, wo ihnen der preußische König Asyl gewährte. Dort hatten sie zwei Jahrhunderte Ruhe, bis 1918/1919 das Ende des Ersten Weltkriegs die mittel- und osteuropäische Landkarte gehörig durcheinander wirbelte. Westpreußen wurde dem wiedergegründeten polnischen Staat zugeschlagen, meine Vorfahren und viele andere Bewohner wurden vertrieben. Mit dabei war meine Großmutter, die 1919 zwanzig Jahre alt war. Sie starb 1981 und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie erzählte, dass sie, ihre Eltern und fünf Geschwister bei Nacht und Nebel ihr vertrautes Zuhause verlassen mussten. Jeder konnte ein Gepäckstück mitnehmen.

Mein Vater wuchs in Labiau auf, einer Stadt nördlich von Königsberg in Ostpreußen. Anfang 1945 war er neun Jahre alt, als er zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zum Flüchtling wurde. Bei Eiseskälte zu Fuß durch eine verschneite, unwirtliche Landschaft, nur das dabei, was am Körper oder auf einem Handkarren transportiert werden konnte. Und dabei ständig den sicheren Tod im Nacken, da die sowjetische Armee kaum jemanden verschonte, voller Rachsucht für ihr von der Wehrmacht verwüstetes Land. Er ist leider früh gestorben, 1989, aber auch von ihm habe ich grausige Geschichten gehört. Nicht oft, er wollte nicht viel darüber reden, aber manchmal erzählte er von Leichenbergen, brennenden Dörfern und Städten, zusammenbrechenden Häusern, vom Beschuss durch Tiefflieger, vom Leben im Auffanglager und vor allem vom ständigen Hunger.

Warum ich das alles aufschreibe? Ich hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, ein Leseprojekt zum Thema Herkunft und Heimat zu starten, auch um dabei der eigenen Familiengeschichte näherzukommen, die immer wieder mit Flucht und Vertreibung zusammenhängt. Wie viele unverarbeitete Traumata müssen das gewesen sein? Was wurde davon weitervererbt, unbewusst? Und jetzt scheint mir ein guter Zeitpunkt dafür zu sein, mich damit endlich einmal näher zu beschäftigen. Ganze Regionen auf dieser Welt versinken im Krieg, Millionen Menschen sind auf der Flucht, Familien, die auch nur das dabei haben, was sie tragen können. Gleichzeitig entsteht bei uns zunehmend eine Stimmung der sozialen Kälte, des aufkeimenden Rassismus und der Aufkündigung der zwischenmenschlichen Solidarität. Das ist beschämend und widerlich zugleich.

Auch die 10 Millionen deutschen Flüchtlinge, die nach 1945 heimatlos wurden, waren in Westdeutschland wie in der späteren DDR nicht willkommen. Auch damals war kein Platz für Mitleid in den Herzen der Nichtvertriebenen. Und auch diese Erfahrung des Nicht-Willkommenseins gehört zu meiner Familiengeschichte der Vertreibung. So wie zu unzähligen anderen in Deutschland. Man sollte meinen, die Menschen hätten daraus gelernt.

Deshalb starte ich jetzt das Leseprojekt Herkunft und Heimat. Es wird mich – neben den anderen Leseprojekten – über viele Jahre begleiten. Ich bin neugierig, welche historischen Horizonterweiterungen dabei herauskommen und was ich über meine eigene Familiengeschichte lernen werde. Und warum das Thema uns alle betrifft, gestern, heute und morgen. In meinem Bücherregal haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Titel rund um dieses Thema angesammelt. Es wird Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. 

  • Sabine Bode, Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation
  • Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise
  • Patricia Clough, Aachen – Berlin – Königsberg
  • R.M. Douglas, ‚Ordnungsgemäße Überführung‘
  • Ulrike Draesner, Sieben Sprünge vom Rand der Welt
  • Flucht und Vertreibung – Europa zwischen 1939 und 1948
  • Mavis Galland, Transitgäste
  • Wladimir Gelfand, Deutschlandtagebuch 1945/1946
  • Gabriele Göttle, Deutsche Bräuche
  • Dörte Hansen, Altes Land
  • Florian Huber, Hinter den Türen warten die Gespenster
  • Olaf Ihlau, Der Bollerwagen
  • Ruth Kibelka, Ostpreußens Schicksalsjahre 1944 – 1948
  • Andreas Kossert, Kalte Heimat
  • Andreas Kossert, Ostpreußen
  • Keith Lowe, Der wilde Kontinent
  • Geert Mak, In Europa
  • Jürgen Manthey, Königsberg – Geschichte einer Weltbürgerrepublik
  • Thomas Medicus, Heimat
  • Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther
  • Jan M. Piskorski, Die Verjagten
  • Daniel Schreiber, Zuhause
  • W.G. Sebald, Austerlitz
  • Ferdinand Seibt, Das alte böse Lied
  • Timothy Snyder, Bloodlands
  • Botho Strauß, Herkunft
  • Gregor Thum, Die fremde Stadt – Breslau 1945
  • Ilija Trojanow, Nach der Flucht
  • Ilja Trojanow, Der Weltensammler
  • Steven Uhly, Königreich der Dämmerung
  • Thomas Urban, Der Verlust
  • Vaterland, Muttersprache – Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945
  • Christa Wolf, Kindheitsmuster
  • Stefan Zweig, Die Welt von gestern

26 Antworten auf „Leseprojekt Herkunft und Heimat“

  1. Ferdinand von Schirach schreibt in Kapitel Vierzehn von „Kaffee und Zigaretten“: „Heimat ist kein Ort, es ist unsere Erinnerung.“ Er erwähnt in dem Zusammenhang Vladimir Nabokovs Autobiographie „Erinnerung sprich“. Vielleicht ein „Kandidat“ für dieses Projekt.

  2. Lieber Kaffeehaussitzer,
    danke für die Anregung zu diesem Leseprojekt und die umfangreiche Bücherliste. Ein mir wichtiges Buch zu dieser Thematik empfehle ich zur Ergänzung. Christa Wolf´s „Kindheitsmuster“. Meiner Meinung nach, ihr bestes Buch, Ich habe es bisher dreimal gelesen, jeweils mit einem Abstand von 10 bzw. 15 Jahren. Und ich bin immer begeistert von diesem Buch.
    Herzliche Grüße
    Christian Walter

    1. Vielen herzlichen Dank für den Tipp – ich habe das Buch gleich mit in die Liste aufgenommen, zumal ich von Christa Wolf noch nie etwas gelesen habe. Was einer echten Bildungslücke gleichkommt, die dringend geschlossen werden sollte.

      1. Hier der Buchanfang zum Anlocken:
        „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.
        Frühere Leute erinnerten sich leichter: eine Vermutung, eine höchst halbrichtige Behauptung. Ein erneuter Versuch, dich zu verschanzen. Allmählich über Monate hin, stellte sich das Dilemma heraus: sprachlos bleiben oder in der dritten Person leben, das scheint zur Wahl zu stehen. Das eine unmöglich, unheimlich das andere. …“

        Christ Wolf reflektiert, klopft die inneren Bewegungen und Zurückweichungen ab, die beim Schreiben über die eigenen Geschichte entstehen und verflicht beides: Die eigenen Geschichten und den Moment des Erinnerns und Beschreibens und dies mit einer gesunden Skepsis.

  3. Hallo Uwe,

    tolles Leseprojekt. Danke. Darf ich ein Buch ergänzen? Ich habe es im Frühjahr gelesen und einigen Menschen, die auch Kinder von Flüchtlingen sind, emfohlen. Und ich habe die Haltung der sog. Alteingesessenen gegenüber den Flüchtlingen in meiner Jugend (60er und 70er) eins zu eins wiedererkannt. Das Buch ist fesseld, klug, berührend.
    Infos: Kurt Oesterle: „Der Wunschbruder“. Erschienen bei Klöpfer & Meyer, Tübingen. Ich habe es vor einer Weile im meinem Blog vorgestellt: http://t1p.de/v9t1

    Viele Grüße nach Köln

    Norbert

  4. Interessantes Projekt und sehr spannende Mischung der Literatur. Ich bin gespannt. Ich mag solche längeren Projekte, da man dann in die Tiefe eines Themas kommt. Ich möchte das auch mal wieder machen – oft fange ich an und dann stosse ich überall auf weitere spannende Themen. Es gibt einfach zu viel auf dieser Welt, das man auch noch erforschen könnte.

  5. Hallo Uwe,
    ein spannendes Projekt! Vielleicht ist dies noch eine sinnvolle Ergänzung in der langen Reihe Deiner Bücher: „Die Hugenotten- Geschichte, Glaube und Wirkung“. Das Buch besorgte ich mir, nachdem ich in Berlin im Hugenottenmuseum war (ein wunderbares kleines Museum) und mir die Geschichte meiner Vorfahren, die von Frankreich nach Ostpreussen wanderten so bildlich vor Augen stand.
    Viele spannende Lesestunden für Dich beim Durchwandern der Zeiten und Geschichten.
    Lieber Gruß von Anja

  6. Hallo Uwe,

    durch deinen Erlebnisbericht zu Ilja Trojanow im Literaturhaus Köln bin ich auch auf diesen Link hier gestoßen.
    Auch in meiner Familie ist das Thema Flucht involviert, auch wenn nie groß darüber gesprochen wurde. Aber alleine der Gedanke daran, was meine Großeltern durchgemacht haben, um da anzukommen, wo sie sich letztendlich niedergelassen haben, welche Entbehrungen sie hinnehmen mussten, macht mich irgendwie verrückt, weil man es gerne erzählt bekommen möchte, es aber nie getan haben. Manchmal nur in kurzen Andeutungen…
    Umso mehr freue ich mich über Bücher, Romane, die das thematisieren und so erfahrbar machen. Draesners Sieben Sprünge kann ich dir ebenfalls ans Herz legen. Ich hatte es damals im Zuge des Longlistlesens durchgearbeitet. Meine Besprechung dazu verlinke ich dir: https://lesenmachtgluecklich.wordpress.com/2014/11/20/longlistlesen-2014-ulrike-draesner-sieben-sprunge-vom-rand-der-welt/

    Liebe Grüße
    Marc

  7. Lieber Kaffehaussitzer,
    das ist ein sehr interessanter Artikel, der im Grunde, so habe ich jedenfalls verstanden, das Thema „wie wir wurden, was wir sind“ aufgreift – und um genau das zu erfahren benötigen wir ein Wissen über die Geschichte. Über unsere familiäre genau so, wie über die allgemeinen Umstände. Mich treibt dieses Thema schon lange um und deshalb finde ich Dein Projekt auch so spannend und werde es mit grossem Interesse verfolgen.

    Im Zusammenhang mit dem aktuellen Flüchtlingsthema und den verheerenden und von weiten Teilen der Bevölkerung samt zugehöriger Regierung beschwiegenen, immer hemmungsloser werdenden Gewalttaten gegen die Flüchtlinge aus Syrien, aus Afrika oder sonstwo fallen mir derzeit immer wieder die ‚deutschen‘ Flüchtlinge des letzten Jahrhunderts ein. Und zwar die Vertriebenen, von denen Du sprichst (meine Oma kommt aus Hinterpommern, da ist das Thema schon gleich ein ganz persönliches), aber auch die vielen Flüchtlinge aus Deutschland, die Juden, Kommunisten und viele andere, die vor den Scheiss-Nazis fliehen mussten und Asyl in aller Welt suchten. Und nicht zuletzt all die Menschen, die im Jahrhundert davor wegen Hunger und Armut aus dem Gebiet, was heute D’land genannt wird, geflüchtet sind, z. B. nach Amerika. Man würde sie heute alle Wirtschaftsflüchtlinge nennen und damit in die perverse Kategorie der besonders ’schlechten‘ Flüchtlinge einstufen.
    Und last not least und nur als Beispiel für das alltägliche daran: der insbesondere in den 30er Jahren ruhmreiche FC Schalke mit seinem Schalker Kreisel hatte seinen Erfolg solchen Spielern wie Szepan, Kwiatkowski, Kuzorra zu verdanken. Polen sozusagen, Einwanderer, Flüchtlinge… und gibt es nicht in beinahe jeder deutschen Stadt eine Danziger Strasse o.ä. Man darf das nicht vergessen, wir sind nicht nur ein Einwanderungsland, sondern auch ein Land, dessen Bevölkerung zu nicht geringenTeilen aus Flüchtlingen und deren Nachkommen besteht. Eigentlich sollte man in diesem Lande allein schon deshalb ganz andere, solidarische, humanitäre Schlüsse aus dem ‚Flüchtlingsproblem‘ ziehen. Sowohl wir, die Bevölkerung, als auch unsere feige Kanzlerin,

    Lieber Uwe, sorry für diesen Deinen Kommentarbereich geradezu verstopfenden Sermon – aber eigentlich bist Du ja selber schuld, Dein grossartiger Post hat da einiges ausgelöst.
    Liebe Grüsse
    Kai

    1. Lieber Kai,
      vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Und Du hast vollkommen recht, es ist ein Thema, das unzählige Familiengeschichten in Deutschland direkt angeht. Es ist noch lange nicht in unserer Gesellschaft verarbeitet und umso wichtiger ist es, sich damit zu beschäftigen. Denn es gilt der oft zitierte, aber zeitlos gültige Satz: Nur wer seine Vergangenheit kennt, kann seine Zukunft gestalten. Bin schon selbst gespannt, was hier noch so alles zusammenkommt.
      Liebe Grüße
      Uwe

      1. Lieber Uwe,
        vielleicht noch als kleine Ergänzung von mir zwei alte Geschichten über meine Oma, die aus Hinterpommern war. Die habe ich vor einigen Jahren geschrieben, als Ergebnis meiner ersten vorsichtigen Nachforschungen. Vielleicht gefallen sie Dir ja – ich muss aber zugeben, heute würde ich das anders schreiben, weniger Pathos und so…

        Hier die Links:

        http://skyaboveoldblueplace.com/2014/03/27/oma-berlin-i-oder-otto-lilienthal-ist-abgesturzt/

        http://skyaboveoldblueplace.com/2014/04/07/oma-berlin-ii-kartoffelpuffer/

        Liebe Grüsse
        Kai

  8. Das ist eine wunderbare Idee daraus ein projekt zu machen. Beschäftige mich auch seit einiger Zeit mit dem Kriegsenkelthema, mit dem Thema Krieg und Kontexten eigentlich schon immer irgendwie.. interessante Liste. Ich hoffe Du findest… was Du suchstß Dir wünscht?

  9. Ich freu mich sehr darauf dieses Projekt zu verfolgen! Und der Verweis auf die Flucht- und Vertreibungsgeschichten innerhalb der eigenen Familiengeschichte, der kommt genau zur richtigen Zeit – so vielen möchte ich das derzeit zurufen: Hättet ihr Eure eigenen Großeltern auch SO behandelt?

  10. Das ist ein wunderbares Projekt, auf dessen Umsetzung ich schon sehr gespannt bin. „Bloodlands“ und „Vielleicht Esther“ habe ich von deiner Liste bereits gelesen, viele andere stehen auf der Wunschliste oder im Regal.
    Ich gehöre zu einer anderen Generation, aber ich weiß, dass auch meine Großmutter fliehen musste – vor einigen Jahren haben meine Mutter und ich ihre Fluchtgeschichte auf Tonband aufgenommen und niedergeschrieben und ich werfe noch immer gerne einen Blick darein.

    Liebe Grüße
    Mara

    1. Dankeschön Mara, ich bin sehr auf Deine Meinungen gespannt. Und Dein Kommentar zeigt, was ich meine: Es sind unglaublich viele Familien von den dramatischen Fluchtgeschichten betroffen. So etwas auf Tonband zu haben ist ein beeindruckendes Zeitdokument.
      Liebe Grüße
      Uwe

  11. Das ist ja ein tolles Projekt! Und so inspirierend!
    Ich habe auch eine sehr unklare Ahnenreihe auf väterlicher Seite. Das wäre spannend, das mal literarisch aufzuarbeiten. Allerdings wüsste ich jetzt spontan gar nicht, wo ich da anfangen sollte.

    Beim Lesen Deiner Zeilen fiel mir das Buch „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ von Ulrike Draesner ein. Ich habe es selbst noch nicht gelesen, war aber auf einer ihrer Lesungen im Herbst und das könnte Dich interessieren.

    Weihnachtliche Grüße!
    Mina

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