Wenn der Krieg kommt

Sandheim ist ein verschlafenes Dorf in der badischen Provinz, fernab von der großen, weiten Welt. Doch im Frühjahr 1945 rollt plötzlich der Krieg darüber hinweg und verändert alles. Jochen Metzger beschreibt in seinem dokumentatorischen Roman »Und doch ist es Heimat« schmerzhaft genau, was mit den Menschen geschieht, wenn ihr Zuhause zum Kriegsgebiet wird. So genau, dass ich immer wieder eine Pause einlegen musste, um das Gelesene zu verarbeiten.

Es ist April 1945. Sandheim ist ein kleines Städtchen, eher ein Dorf zwischen Karlsruhe und Mannheim auf der Höhe von Bruchsal gelegen, inmitten der nordbadischen Rheinebene; der große Fluss ist nicht weit entfernt. Die Landwirtschaft prägt das Bild, zu einem großen Teil leben dort alteingessesene Bauernfamilien, verwurzelt, bodenständig, tiefgläubig. Alles wirkt so alltäglich wie immer, Felder müssen gepflügt, das Saatgut muss ausgebracht werden, der ewige Kreislauf der Natur fragt nicht nach menschlichen Befindlichkeiten. Aber die Ruhe täuscht und natürlich ist überhaupt nichts alltäglich im Frühjahr dieses Jahres. Man sieht so gut wie keine jungen Männer auf den Straßen oder auf den Feldern. Gesunde Pferde als Zugtiere sind Mangelware. Männer wie Pferde wurden vom Krieg verschlungen. Doch niemand getraut sich, die Lage zu kritisieren, denn überzeugte Parteigenossen, Nazi-Funktionäre und Hitlerjungen, die gibt es noch. Jeder kennt jeden, man wird gleichgültig, passt sich an, auch das Schicksal eines Nachbarn, dessen Tochter und seiner jüdischen Frau nehmen die Nachbarn nur achselzuckend zur Kenntnis. Es ist eine giftige Stimmung, die in der Luft hängt, drückend, wie vor einem Gewitter.

Dann kommt der Krieg.

Denn genau an dieser Stelle des Rheins überqueren in jenem April 1945 französische Einheiten unter großen Verlusten den Fluss. Es handelt sich um marokkanische und algerische Soldaten aus den französischen Kolonien, die einerseits wegen ihrer Wildheit gefürchtet sind, andererseits von ihren französischen Offizieren wie Kanonenfutter behandelt werden. Die Kämpfe sind kurz und heftig, Sandheim gerät zwischen die Fronten, wird von der angreifenden Seite bombardiert und von der sich zurückziehenden Seite beschossen. Es gibt Tote, Verletzte, zerstörte Häuser, dann ist es wieder still. Bis die Soldaten kommen.

Sandheim wird von den Franzosen besetzt, erst scheint alles ruhig zu bleiben, doch dann kommt es zu massiven Übergriffen, Vergewaltigungen und Plünderungen. Die Männer des Dorfes stehen hilflos daneben, für die Frauen und Mädchen beginnt ein Martyrium, in kürzester Zeit ist die vermeintlich heile Welt des Ortes in sich zusammengebrochen; wurde hinweggefegt, als hätte es sie nie gegeben.

Nach einiger Zeit ist alles vorbei, doch die Wunden bleiben. Und jeder Dorfbewohner, jede Dorfbewohnerin muss für sich lernen, mit ihnen umzugehen. Hilfe gibt es nicht.

Jochen Metzger erzählt uns, was damals passiert ist. Seine kurzen Sätze, sein sachlicher Erzählstil wirken beinahe schon dokumentarisch; die Dialoge sind knapp, die Menschen dort machen keine langen Worte. Durch das gewählte Präsens erscheint der Bericht noch unmittelbarer, man hat als Leser das Gefühl mittendrin zu sein, zwischen den Personen und Ihren Schicksalen hin und her zu laufen. Und manchmal mehr zu sehen, als man möchte. Dann tun sie weh. Die Bilder, die man so schnell nicht wieder aus dem Kopf herausbekommen wird.

Dazu kommt ein ständiger Perspektivwechsel, jedes Kapitel ist aus der Sicht einer anderen Person erzählt. Wir lernen dadurch nach und nach zahlreiche Dorfbewohner aus den verschiedenen Familien kennen, erleben Angst und Hoffnung, Neid und Mißgunst, Verzweiflung, aber auch aufkeimende erste Liebe. Manche Personen tauchen immer wieder auf, so dass wir den Fortgang der Geschehnisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln erleben – auch aus denen der französischen Soldaten.

Der Krieg bricht über Sandheim herein wie eine Naturkatastrophe und so wird er von den Menschen dort verarbeitet. Etwas, das eben passiert, etwas, womit man eben klarkommen muss, ohne groß darüber zu reden. Nicht jedem wird dies gelingen. Ein großes Schweigen wird sich ausbreiten – so wie nach 1945 überall in Deutschland. Leid und Schuld vermischen sich zu etwas Dunklem, das nicht mehr erwähnt werden soll.

Der Autor Jochen Metzger stammt aus der beschriebenen Gegend. Er hat als Kind, als junger Mensch dieses anhaltende Schweigen erlebt. Und hat angefangen nachzuforschen, solange noch Zeitzeugen am Leben sind. Er hat sie zum Sprechen gebracht und beschreibt diesen Prozess eindrucksvoll im Nachwort. Daraus ist dieser Roman entstanden. Und bei aller Detailtreue ist es ein Roman, der zwar auf wahren Begebenheiten beruht, dessen Akteure aber allesamt Fiktion sind. Stellvertretend für all die Menschen, über die 1945 wie eine Urgewalt der Krieg hereinbrach.

Auch das Dorf mag stellvertretend dafür stehen. Denn existiert Sandheim wirklich? Zwar gibt es einen gezeichneten Straßenplan am Endes des Buches, zwar zeigt der Rowohlt Verlag auf der Webseite zum Buch die Karte als interaktive Version mit historischen Photographien – doch ich habe in der angegebenen Gegend keinen Ort dieses Namens gefunden, so gründlich ich verschiedendste Landkarten auch abgesucht habe. Ein Rheinsheim gibt es dort, ein Rußheim, ein Huttenheim und etliche andere -heims. Nur kein Sandheim. Die französische Rheinüberquerungen bei Germersheim und bei Speyer sind so gut wie vergessen, aber sie haben stattgefunden mit all ihren Folgen für die Menschen dort. Auch wenn die damaligen Geschehnisse in keinem Geschichtsbuch vorkommen, selbst das allwissende Internet spuckt nur rudimentäre Informationen aus.

Umso beeindruckender erscheint dieser Roman, der in Form des vielleicht fiktiven Dorfes Sandheim ein langjähriges Schweigen aufbricht und allen Menschen ein Denkmal setzt, die erleben müssen, was es heißt, wenn der Krieg kommt. Damals in Deutschland, heute an vielen anderen Orten in dieser Welt.

Buchinformation
Jochen Metzger, Und doch ist es Heimat
Kindler Verlag
ISBN 978-3-463-40673-2 

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