Jeder Mensch ist eine Insel

Jan Costin Wagner: Tage des letzten Schnees

Der Roman »Tage des letzten Schnees« von Jan Costin Wagner beginnt mit einem schweren Autounfall, bei dem ein elfjähriges Mädchen stirbt. Den Leser lässt dieser Einstieg sprach- und hilflos zurück, die Situation ist emotional so nah beschrieben, das man es kaum aushält. Wäre mir das im Vorfeld bekannt gewesen, dann hätte ich das Buch ziemlich sicher nicht gekauft. Und mir wäre eine intensive Leseerfahrung entgangen.

Es ist Mai in Finnland. Die Geschichten von völlig verschiedenen Menschen werden erzählt, die sich nicht kennen, die aber eines gemeinsam haben: Jeder von ihnen existiert in seiner eigenen kleinen Welt, traurig, abgeschottet, einsam. Einige der Handlungsstränge berühren sich, werden vom Autor kunstvoll miteinander verknüpft. Später, schon gegen Ende des Romans, gibt es einen weiteren schweren Autounfall, ein letztes Puzzleteil, das für den Leser letztendlich die Verbindung zwischen allen Personen herstellt.

Da ist Lasse Ekholm, dessen Tochter bei dem erwähnten Unfall gleich zu Beginn des Romans ums Leben kommt. Er überlebt, aber alle Freude ist fortan aus seinem Leben gewichen. Er funktioniert nur noch, eine dünne Kruste der Routine über bodenloser Verzweiflung, während seine Frau Kirsti sich in wilden Aktionismus stürzt, um das Unverdrängbare zu verdrängen.

Da ist Markus Sedin, ein erfolgreicher Investmentbanker, dessen Familienleben zu einer leeren Hülle geworden ist. Als er die junge Ungarin Réka kennenlernt, verliebt er sich Hals über Kopf in sie, kauft ihr eine Wohnung in Helsinki und träumt von einem Ausbruch aus seinem Leben, das ihn anödet. Réka wiederum spielt ein doppeltes Spiel. Eigentlich ein dreifaches Spiel, aber das merkt Markus Sedin viel zu spät.

Da ist Unto Beck, ein junger Mann, der sein ganzes Schulleben lang von seinen Mitschülern drangsaliert wurde, der immer weiter in seine Gewaltphantasien abdriftet und davon träumt sich an der ganzen Gesellschaft zu rächen. Seine Schwester Mari Beck ahnt etwas und wird misstrauisch, als sie entdeckt, dass ihr Bruder sich in einer Newsgroup über Amokläufe austauscht. Sie legt sich einen Account an und beginnt unerkannt mit ihm zu chatten. Was ihre vagen Sorgen zu konkreten Befürchtungen werden lässt.

Und schließlich Kommissar Kimmo Joentaa, eine zentrale Person der Handlung, aber nicht die Hauptperson, denn es gibt keine. Über den Krebstod seiner Frau Sanna vor ein paar Jahren ist er nie hinweggekommen. Es geht ihm besser, seit er mit Larissa zusammenlebt. Wobei es kein richtiges Zusammenleben ist. Denn ihren richtigen Namen kennt er nicht, Larissa ist ein Pseudonym, unter dem sie als Prostituierte arbeitet. Manchmal ist sie Joentaa ganz nahe, dann ist sie wieder monatelang ohne ein Lebenszeichen verschwunden, er wird nicht schlau aus ihr.

In einem Park werden zwei Leichen gefunden. Joentaa beginnt zu ermitteln, Beziehungsgeflechte freizulegen und Stück für Stück tauchen Zusammenhänge aus dem Dunst auf, Konturen werden deutlich. Einander völlig fremde Menschen beeinflussen gegenseitig den Verlauf ihres Lebens, ohne sich zu kennen, ohne voneinander zu erfahren.

Das Buch ist kein Lesevergnügen, aber ein Leseerlebnis. Die handelnden Personen bleiben dem Leser fremd, was nicht verwunderlich ist, da niemand sich in einer der geschilderten Situationen befinden möchte. Das unterstreicht deren Einsamkeit noch mehr, der bekannte Satz »Jeder Mensch ist eine Insel« wird in dieser Geschichte zur harten Wahrheit. Bei aller geschilderter Trostlosigkeit konnte ich das Buch dennoch nicht aus der Hand legen, von Beginn an schafft es der Autor einen Spannungsbogen aufzubauen, man möchte wissen, wie es weitergeht.

Es ist ein Roman voller Traurigkeit, doch mit einem versöhnlichen Ende. Denn ganz zum Schluss ist zumindest Kimmo Joentaa nicht mehr alleine. Allerdings auf eine völlig andere Art und Weise, als er es sich vorgestellt hat.

Buchinformation
Jan Costin Wagner, Tage des letzten Schnees
Verlag Galiani
ISBN 978-3-86971-017-4

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3 Antworten auf „Jeder Mensch ist eine Insel“

  1. Ach ja, diese nie ganz abzuschließende Frage, ob der Mensch nun eine Insel ist oder nicht … Die Überschrift gefällt mir jedenfalls, und die Stimmung kenne ich aus meiner einzigen Leseerfahrung mit diesem Autor. Jenes Buch hatte mich damals aber nicht überzeugt, ohne dass ich jetzt noch mehr dazu sagen könnte.

    1. Ja, ich hatte eigentlich mit einem Krimi gerechnet und bin das in dieses Panoptikum von Einzelschicksalen quasi hineingestolpert. Und war dann aber völlig fasziniert, zumal die Geschichte einige sehr überraschende Wendungen nimmt und ein wirklich großartiges Ende hat.

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