Das Ende der bekannten Welt

Herfried Münkler: Der große Krieg

Die Welt, in der wir heute leben, ist zu großen Teilen aus den Folgen der Ereignisse entstanden, die 1914 begannen und die in England und Frankreich der Große Krieg genannt werden. »Der Große Krieg« ist auch der Titel von Herfried Münklers lesenswerter Darstellung des Ersten Weltkriegs. Die Jahre von 1914 bis 1918 waren eine Zeitenwende von epochaler Wucht, die in der deutschen Erinnerungskultur bisher immer ein Schattendasein führte – überlagert von den verheerenden Ereignissen, die danach stattfanden. Und unmittelbar darauf zurückzuführen sind. Denn 1914 hat alles angefangen.

Das Buch ist ein weiterer wichtiger Baustein meines Leseprojekts Erster Weltkrieg. Nachdem ich »Die Schlafwandler« fertig gelesen hatte, worin Christopher Clark brillant die Geschehnisse analysiert, die in die Katastrophe führten, ist »Der große Krieg« die perfekte Fortführung. Die hundertjährige Wiederkehr des Schicksalsjahres 1914 ist omnipräsent und es gibt eine Flut von Neuerscheinungen, die das Schattendasein dieses Themas wohl endgültig beenden werden. Das Werk von Münkler hilft dabei, sich  grundlegend zu orientieren und dabei den neuesten Forschungsstand kennenzulernen.

»Die Welt von 1914 bis 1918 war eine Welt des Übergangs, in der sich Altes und Neues miteinander verbanden, sich vermischten, aber häufig auch bloß unverbunden nebeneinanderstanden. Es war eine Zwischenwelt, die einerseits noch ganz vom 19. Jahrhundert geprägt war und in der gleichzeitig fast alle Merkmale des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Sie war gleichzeitig der Durchbruch in die Moderne wie die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, in der alle Schrecknisse dieser Ära ihren Ursprung hatten.«

Gleich auf den ersten Seiten fällt die Unaufgeregtheit der Darstellung auf. Dies ist besonders dort bemerkenswert, wo es um die seit Jahrzehnten andauernde Kriegsschuld-Debatte geht; gerade neu entfacht von denjenigen, die nur den deutschen Imperialismus im Blick haben und sich nicht vom bequemen Schwarz-Weiß-Denken trennen möchten. Souverän erläutert Münkler, dass natürlich das deutsche Kaiserreich einer der Hauptverantwortlichen für die Geschehnisse war, die 1914 zum Krieg führten. Aber eben nicht der einzige, denn alle Großmächte Europas handelten imperialistisch und nationalistisch. Und verantwortungslos. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Statistiken, die den prozentualen Anteil des Militärhaushalts und die Militarisierung der Gesellschaft z.B. durch den Umfang der Wehrpflicht darlegen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs belegten die ersten beiden Plätze Russland und Frankreich. Heute, hundert Jahre später, geht es darum, die europäische Perspektive der Verwicklungen und Verstrickungen zu betrachten, die damals so verhängnisvoll ineinander griffen. Während die Ursachenforschung im Mittelpunkt von Clarks »Schlafwandlern« steht, beschäftigt sich Münklers Werk vor allem mit den historischen Abläufen.

Das Buch führt uns mitten in die aufgeheizte Atmosphäre des Sommers 1914. Mobilmachungen werden verkündet, Krieg erklärt, Armeen in Marsch gesetzt, alles nach einem perfekt ausgearbeiteten, unerbittlichen Ablauf. Die Politik verliert die Oberhand über das Geschehen, die Militärs übernehmen, ab einem bestimmten Punkt ist nichts mehr zu stoppen. Denn der Aufmarsch von Millionenheeren ist nirgends so einfach aufzuhalten.

Es folgt die Reise über die Schauplätze: Der deutsche Angriff auf Frankreich über das neutrale Belgien, die ersten Kampfhandlungen, Marneschlacht, Scheitern des Schlieffenplans, das Eingraben und eine feste Front von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze, gleichzeitig der russische Angriff auf Ostpreußen, der Krieg um Galizien. Dann der erste Kriegswinter, der Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten der Mittelmächte, Gallipolli, Verdun, Somme, Flandern, Isonzo, die Feldzüge in Osteuropa, in den afrikanischen Kolonien, in Mesopotamien, im Kaukasus, U-Boot-Krieg, der Kriegseintritt der USA, Revolution in Russland, Lenin, das letzte deutsche Aufbäumen, Revolution in Deutschland, der Zerfall Österreich-Ungarns, das Ende 1918 und eine Welt, die nicht wiederzukennen war. Um nur ein paar der wichtigen Eckdaten zu nennen.

Das alles wäre zunächst einmal nichts Neues, die historischen Fakten sind ja bekannt. Was aber die Darstellung von Münkler so interessant macht, sind zum einen zahlreiche Was-wäre-wenn-Gedankenspiele, in denen er politische und militärische Scheidewege aufzeigt, an denen die Geschichte auch einen anderen Verlauf hätte nehmen können. Und zum anderen ist dieses Buch noch viel mehr als eine rein militärgeschichtliche Abhandlung. Es geht vor allem um die Zwischentöne. Um den Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Entstehung der Annexionspläne Deutschlands, um die moralische Rechtfertigung des Krieges in den einzelnen Ländern. Um die Rolle der künstlerischen, geistigen und wissenschaftlichen Eliten, die sich zu großen Teilen für propagandistische oder militärische Zwecke instrumentalisieren ließen, um die Entstehung einer kriegerischen Ikonographie. Um den Mythos eines großen Schrittes in Richtung Emanzipation der Frauen, um politische Verwicklungen und Fallstricke. Um das Leiden der Zivilbevölkerung durch Zerstörung, Vertreibung, Krankheiten und Hunger. Um technische Innovationen, mit denen die Kämpfe endgültig zu reinen Materialschlachten wurden, die mehr und mehr Menschenopfer forderten. Um die Ausarbeitung von Plänen für einen Bombenkrieg auf zivile Ziele, die mangels Gerät nicht in diesem, umso zerstörerischer aber im nächsten Weltkrieg umgesetzt wurden. Um die Verwandlung des deutschen Kaiserreichs von einer rechtsstaatlichen, teilparlamentarischen Monarchie zu einem Militärstaat, in dem der Kaiser und seine Minister nicht mehr das Sagen hatten. Und um viele, viele Details und zahllose Zusammenhänge, die mir so noch nicht klar oder die mir so noch nicht bekannt waren.

Natürlich fehlen auch die Bezüge zur heutigen Zeit nicht, die Folgen des Ersten Weltkriegs, die bis heute andauern, wie etwa der Nahost-Konflikt, der Aufstieg der USA und Russlands zu Weltmächten oder der als indirektes Vermächtnis einsetzende Zerfall des britischen Empire mit all seinen heute noch spürbaren postkolonialen Problemen. Doch auch wenn der Untertitel des Buches »Die Welt 1914 – 1918« einen globalen Ansatz vermuten lässt, der in den großen Zusammenhängen auch zur Geltung kommt, ist der Hauptteil der Schilderung doch auf die deutsche Sichtweise bezogen. Ein kleiner Wermutstropfen, der allerdings der großartigen Beschreibung der dramatischen Ereignisse keinen Abbruch tut.

Was bleibt? »Die Geschichte wiederholt sich nicht, zumindest nicht in exakt der Form, in der sie schon einmal stattgefunden hat. Aber die Konstellationen, die einer Ereignisabfolge zugrunde liegen, sind einander oft ähnlich, und nur deswegen hat die Formel Sinn, man könne und müsse aus der Geschichte lernen.«

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.

Buchinformation
Herfried Münkler, Der Große Krieg
Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-87134-720-7

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4 Antworten auf „Das Ende der bekannten Welt“

  1. Super,schon mal einen Vorabeindruck zu haben. Im Freitag wurde Herr Münkler auch schon recht gut besprochen.
    Das erste Großprojekt ‚Die Schlafwandler‘ neigt sich bei mir jetzt auch langsam dem Ende zu, sodass ‚Der große Krieg‘ wohl bald auf den Nachttisch aufrücken wird.
    Bin gespannt, ob er mein Schulwissen erweitern kann (naja eigentlich bin ich ziemlich sicher).

  2. Danke für diese Besprechung, deren Eindruck ich nach meiner bisherigen Lektüre teile. Ein wichtiges Buch zum Thema. Habe mich zu einer Sammelrezension entschlossen, so daß es noch etwas dauern wird.

    1. Danke für das Feedback! Auf Deine Sammelrezension bin ich schon gespannt. Als Gesamtdarstellungen habe ich noch den Piper, „Nacht über Europa“ und den Leonhard, „Die Büchse der Pandora“ vor mir. Von dem einen verspreche ich mir weitere mir bisher unbekannte Aspekte, von dem anderen eine stärkere globale Darstellung. Man wird sehen…

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