Venezianischer Textbaustein*

Fruttero und Lucentini: Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz

Das hier ist meine Lieblingsstelle in dem wunderbaren, großartigen Buch »Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz« des italienischen Autorenduos Fruttero & Lucentini. In dem Roman geht es um das Thema Unsterblichkeit, so wie in dem schon vorgestellten »Alle Menschen sind sterblich«. Auch hier steht ein auf ewig Reisender im Mittelpunkt der Geschichte, die in Venedig spielt. Die zitierte Stelle lese ich mir manchmal laut vor – einfach weil mir die Sprache so gut gefällt. Und bekomme jedes Mal eine Gänsehaut.

»Es ist die Frage eines Augenblicks. Der unerfahrene Luigi zögert, berechnet, misst. Oreste Nava sieht ihn den alten Regenmantel, den abgestoßenen uralten Koffer, das abgerissene Aussehen des Neuangekommenen bewerten. Er sieht die Antwort, die der Computer der Hotelfachschule ausspuckt: armer Teufel, eine Art Gelegenheitssekretär oder noch bescheidenerer Untergebener, möglicher Bettler, völlig uninteressant. Und er sieht Luigi zur Frau im Fuchs hinspritzen, sich mit dem vorschriftsmäßigen Lächeln beflissener Ehrerbietung der Tragtasche bemächtigen.
›Du Dummkopf, nein!‹ möchte ihm Oreste Nava zurufen, der in diesem Augenblick etwas ganz anderes gesehen hat …
Aber was hat er eigentlich gesehen? Es ist schwierig zu erklären, Luigi und auch jedem anderen. Der Mann hat seinen Koffer abgestellt und sieht sich um, sieht Oreste Nava an, auf die kaum merklich amüsierte, kaum merklich aufmerksam gewordene Weise eines, der hier schon einmal gewesen ist, der wiedererkennt, sich erinnert. Unmöglich, Luigi oder auch jedem anderen zu beweisen, dass er ihn wirklich mit diesem millimeterkleinen Kopfnicken gegrüßt, ihm dieses feilspandünne Lächeln geschenkt hat; aber Oreste Nava hat, unfehlbar, das eine wie das andere registriert und weiß, was es bedeutet. Dieser Mann, wer er auch sei, gehört zu denen, die überall zu Hause sind, hier oder unter einer Seinebrücke oder in einem Club am Piccadilly oder in einem scheppernden Wagon der indischen Eisenbahn; die auf alles verzichten können, die sich nie darüber beklagen, dass es regnet oder zu heiß ist; die kein Theater machen, weil der gin-and-lime lauwarm ist; die nie die Stimme heben, die einen um einen Dienst bitten und einem ein Trinkgeld geben und dabei ein ganz klein wenig die Schulter zucken mit einer Geste zwischen Ironie und fast Herzlichkeit – unmöglich, das beides zu beweisen – , dieser Mann ist jemand, der es gewohnt ist, das Leben als eine Lotterie anzusehen, in dem die Rollen ohne weiteres vertauscht werden können.
Kein Weltmann, sondern ein Mann von Welt, einer der nichts beweisen muss, auch er mit einem reichen, kostbaren, einzigartigen Album, und auch er ist sich bewusst, dass es niemandem nützen wird, dass es für immer in einem Dorf am Mittelmeer, an der Ostsee, am Indischen Ozean verschwinden wird. Ein Mann, der weiß. Ein Mann von früher.«

* In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich immer wieder lese. Solche Stellen begleiten mich seit Jahren, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt.

Buchinformation
Carlo Fruttero/Franco Lucentini, Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz
Aus dem Italienischen von Dora Winkler

Piper Taschenbuch
ISBN 978-3-492-21173-4

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3 Antworten auf „Venezianischer Textbaustein*“

  1. Heute morgen, halbschlafend im Bett ist aus meinem Unterbewußten die Wortfolge „Liebhaber ohne festen Wohnsitz“ ins Halbbewußtsein aufgestiegen, ob „der“ oder „ein“ weiß ich nicht.

    Da ich mit dem Satz nichts anfangen konnte, hab ich danach gegoogelt, und diese Ihre Buchbesprechung gefunden, und damit diesen Ihren Blog, den ich jetzt interessiert durchpflüge und hier und da Kommentare hinterlasse.

    Ich hatte früher schon mehrere Fruttini/Lucentini-Krimis gelesen, ich erinnere mich v.a. an dem Anfang eines davon; „A que punto é la notte? – Wie weit ist die Nacht?“, was – wie ich später erfuhr, ein Bibelzitat ist.

    In meinem Bücherregal fand ich aber nur den hier besprochenen Band, den ich aber offensichtlich noch nicht gelesen hatte. Auf dem Deckel ist ein Sticky-Note mit dem Wort „Danke“. Also wohl ein Geschenk, aber von wem? Meine Covid-Infektion hatte mein Gedächtnis beschädigt; es gibt viele Dinge von denen ich nicht weiß, daß ich sie nicht mehr weiß.

    Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz hat jetzt einen Platz auf meiner Leseliste.

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