Graf Draculas Osteuropa

Elizabeth Kostova: Der Historiker

Heute schreibe ich etwas über einen Vampirroman. Halt, halt, jetzt bitte nicht wegklicken, »Der Historiker« von Elizabeth Kostova ist ernstzunehmende Literatur ganz im Sinne von Bram Stoker. Das Buch transportiert grandios die Graf-Dracula-Geschichte in die Neuzeit, ins ausgehende 20. Jahrhundert und verknüpft sie mit den politischen Gegebenheiten und den Umwälzungen in den osteuropäischen Staaten. Zwei Dinge stehen im Mittelpunkt der Erzählung: Eine Suche nach der Wahrheit und eine Liebeserklärung an die verwunschene Atmosphäre der Länder Osteuropas.

Die namenlos bleibende Ich-Erzählerin sucht nach ihrem verschwundenen Vater, einem Wissenschaftler, der sich mit den Legenden und Mythen Osteuropas befasst hatte. Dieser ist wiederum auf der Suche nach seinem ebenfalls verschwundenen Doktorvater gewesen, der tief eingetaucht war in die Sage um Vlad Ţepeş, genannt »Drakulya, der Pfähler«. Er war dabei auf Hinweise gestoßen, die ihn zutiefst verstört hatten. Direkt nachdem er dem Vater der Erzählerin seine Forschungsergebnisse mitgeteilt hatte, verschwand er auf dramatische Weise. 

Das Buch spielt gekonnt mit mehreren Zeitebenen. Auf der einen Seite wird die Suche des Vaters beschrieben, die ihn von Oxford nach Istanbul, dann nach Bukarest und schließlich in ein abgelegenes Kloster in Bulgarien führt, das auf keiner Karte verzeichnet ist. Auf der anderen Seite folgt die Erzählerin der Spur ihres Vaters, findet außerdem dabei Hinweise, dass ihre Mutter, die vor Jahren gestorben sein soll, noch am Leben ist. Europäische Geschichte und Mythen verknüpfen sich immer dichter, schließlich kommt es zum großen Showdown und zur Auflösung. Und alle Erzählstränge verbinden sich zu einem grandiosen Ende.

Ich habe »Der Historiker« mit großer Begeisterung gelesen. Neben einer sehr spannenden Handlung und einer mitreißenden Sprache schafft es die Autorin, eine Sehnsucht nach Südosteuropa im Leser zu wecken, nach den abgelegenen, ein bisschen unheimlichen und mystischen Landschaften und kleinen Städten, in denen die Zeit seit vielen Jahren stehengeblieben zu sein scheint. Das hat mich so in seinen Bann gezogen, mich so tief in die Geschichte eintauchen lassen, dass es irgendwann klar war, es gibt Drakulya wirklich. Es konnte gar nicht anders sein. So wirkt es nur konsequent, wenn auch die beiden Suchen genau zu ihm hinführen. 

Und es ist auch ein Buch über das Reisen, über das Unterwegs sein, über die unstillbare Sehnsucht nach Neuem. Melancholisch und aufregend gleichzeitig. Eine kleine Kostprobe: »Als Erwachsene habe ich oft jenes besondere Vermächtnis kennen gelernt, das die Zeit dem Reisenden überlässt: die Sehnsucht, einen Ort ein zweites Mal aufzusuchen, gezielt zu finden, worüber wir einst wie zufällig gestolpert sind, und so das Gefühl der Entdeckung noch einmal zu durchleben. Manchmal suchen wir dabei einen Ort erneut, der als solcher nicht sonderlich bemerkenswert war – wir wollen ihn nur wiedersehen, weil wir uns an ihn erinnern. Wenn wir ihn dann finden, ist natürlich alles anders. Die grob gezimmerte Tür ist noch da, aber sie scheint weit kleiner, der Tag ist verhangen und nicht klar, es ist Frühling statt Herbst, und wir sind allein, ohne die drei Freunde von damals. Oder schlimmer noch: mit drei Freunden da, statt allein zu sein.«

Ein Buch über die Zeit, die vergeht, eine Geschichte über das Älterwerden.

Buchinformation
Elizabeth Kostova, Der Historiker
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Berliner Taschenbuch Verlag
ISBN 978-3-8333-0394-4

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9 Antworten auf „Graf Draculas Osteuropa“

  1. Wow, einen Vampir-Roman hätte ich auf deiner Seite nicht erwartet. Um „so etwas“ macht die/der seriöse Buchblogger/in ja lieber einen großen Bogen. Dir scheint das ja auch bewusst zu sein, entschuldigst du dich ja beinahe am Anfang deiner Besprechung, bevor du überhaupt angefangen hast.
    Aber wie dem auch sei, die folgende Rezension lässt spüren, wie sehr du diesen Roman genossen hast – und machst ihn damit auch für mich interessant. Ich bin schon oft über das Buch gestolpert, aber erst jetzt habe ich so richtig Lust bekommen, ihn auch zu lesen.
    Die einzigen der zur „ernsthaften Literatur“ gehörenden Vampir-Geschichten, die ich kenne, sind für mich „Die liebende Untote“ von Théophile Gautier und „Carmilla“ von J. Sheridan Le Fanu. Bram Stokers „Dracula“ hat meiner Meinung nach große Momente, aber auch viele triviale.

  2. Schöne begeisterte/begeisternde Besprechung. Danke dafür! Wer hat das Buch denn übersetzt? Der- oder diejenige dürfte ja nicht unerheblichen Anteil an der „mitreißenden Sprache“ haben. Der Anteil des Übersetzers an einer gelungenen Übertragung ins Deutsche wird leider immer wieder unterschätzt. ;)

    1. Danke für den Hinweis. Normalerweise nenne ich die Übersetzer immer in den bibliographischen Angaben, denn es ist mir bewusst, dass ich mein Lesevergnügen zu einem entscheidenden Teil ihnen verdanke – hier ist es mir irgendwie durchgegangen. Habe ich direkt ergänzt.

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