Die Gretchenfrage nach der Axt

Was ist große Literatur? Eine Bloggerdiskussion.

Was ist große Literatur? So, jetzt erst einmal durchatmen bei dieser Frage, bevor ich versuche, eine persönliche Antwort darauf zu finden. Zustande gekommen ist die knifflige Herausforderung durch eine Twitter-Unterhaltung. Verschiedene Buchblogger tauschten sich über Dave Eggers »Der Circle« aus. Norman Weiß von notizhefte zitierte für Andrea Breuer von danares.mag  einen Verriss des Buches, worauf Sophie Weigand von Literaturen entgegnete, dass ihr das Buch sehr gut gefallen habe. Ich klinkte mich in das Gespräch ein:

Da fiel der Begriff große Literatur das erste Mal. Auf mein Argument, dass ich »Der Circle« zwar als Story gut fand, das Buch mich sprachlich aber nicht sonderlich begeistert hat, ging es munter hin und her, immer der Überlegung nach, wie Sprache, Anspruch und Literatur zusammenhängen. Dann kam durch einen weiteren sich einklinkenden Gesprächsteilnehmer die Frage:

Eine Definition für große Literatur. 140 Zeichen auf Twitter sind dafür recht knapp. Sophie und ich verabredeten uns deshalb, dass wir uns parallel dazu Gedanken machen und das dann zeitgleich auf unseren Blogs veröffentlichen würden. Während ich das schreibe, bin ich schon sehr auf ihren Beitrag gespannt.

Was ist also große Literatur? Wer kann das überhaupt verbindlich festlegen? Wer die Messlatte auflegen? Schwierig. Von daher kann die Frage nur individuell beantwortet werden und ich formuliere sie deshalb um: Was ist für mich große Literatur?

Zum einen sind das Texte, die über die Jahrzehnte und Jahrhunderte zu uns sprechen und uns immer noch berühren. Shakespeares markige Dialoge können knapp 400 Jahre später immer noch begeistern, die gefühlte Hälfte von Goethes Texten ist in unseren allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, wie die Beitragsüberschrift veranschaulicht. Die Stelle in »Krieg und Frieden«, in der Tolstoi den Fürsten Andrej sterben lässt, ist für mich mit die beste Todesszene, die jemals geschrieben wurde und seit zwanzig Jahren fest in meinem Gedächtnis verankert. Aber das sind willkürliche Beispiele für Literatur, die zu unserem großen abendländischen Literaturkanon gehören und die zu recht unvergessen sind.

Doch was ist mit aktueller Literatur? Was macht ein Buch, einen Text für mich groß? Es gibt ein Zitat, das leider ziemlich inflationär gebraucht wird, aber es trifft es so perfekt, dass ich es hier auch aufschreiben möchte: Kafkas »Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«. Denn das ist es, das vollbringt große Literatur. Sie erschüttert uns oder das Bild, das wir von uns, der Welt und dem Leben haben. Viele Bücher lesen wir der Unterhaltung willen, weil sie spannend sind oder lustig, weil wir unser Wissen erweitern möchten. Aber manchmal ist eines dabei, das bis ins Mark trifft. In dem man sich, sein Leben, seine Gedanken wiedererkennt, als würde man in einen Spiegel schauen. Entscheidend ist für mich dabei aber nicht nur der Inhalt, sondern die Sprache, oder besser gesagt, eine perfekte Mischung aus beidem. Einer meiner Lieblingstexte wirkt auf mich zum Beispiel nur in einer bestimmten Übersetzung, sonst nicht. Es gibt Textstellen, die mir so gut gefallen, dass ich sie mir manchmal laut vorlese. Es gibt andere, die mich wie ein Faustschlag in die Magengrube getroffen haben. Viel hat dies alles mit der persönlichen Situation zu tun, mit der Lebenserfahrung, die einen einen Text mit vierzig anders lesen lässt als mit zwanzig. So wird etwa der Vater eines Sohnes Cormac McCarthys »Die Straße« völlig anders erleben als ein kinderloser Leser.

Wie viele Bücher ich in meinem Leben gelesen habe weiß ich nicht. Seit vielen Jahren führe ich eine Liste, in alte Schulschreibhefte trage ich Autor und Titel jedes gelesenen Buches ein. Nur das. Blättere ich jetzt in der Zeit zurück, weiß ich bei manchen Büchern nicht mehr, um was es ging, als hätte ich sie nie gelesen – so belanglos waren sie. Andere wiederum verbinde ich mit bestimmten Situationen und kann mich genau erinnern, was sie in diesem Moment zu etwas Besonderem gemacht hat. Und manche davon begleiten mich in Gedanken, seit ich sie gelesen habe. Es sind nicht viele, aber sie stechen aus der Menge hervor. Ich bin einer derjenigen, der Bücher, die ihm wichtig sind, gerne mehrmals liest, manche davon sogar immer wieder und wieder. Es sind Bücher, in denen für mich alles stimmt: Die Handlung, die mich fesselt, die Sprache, die mich berührt und die Situation, in der ich mich befand, als ich sie das erste Mal gelesen habe und die mir bis heute eine wichtige Erinnerung ist.

Das alles zusammen ergibt für mich eine perfekte Symbiose, ist für mich Kafkas Axt, ist meine persönliche große Literatur. Und zwar vollkommen unabhängig vom Genre. Sind Beispiele gewünscht? McCarthys schon genannter Roman »Die Straße« ist so ein Buch für mich. Oder Kafkas Erzählung »Die Fürsprecher«. Oder Sven Regeners »Herr Lehmann«, alleine schon wegen der letzten beiden Sätze. Oder Simone de Beauvoirs »Alle Menschen sind sterblich«, das mir klar gemacht hat, was einen Menschen eigentlich ausmacht. Oder Oscar Wildes »Das Bildnis des Dorian Gray«, das – in der klassischen Übersetzung – eine der schönsten Textstellen enthält, die ich kenne. Oder Robert Harri »Vaterland«, das mir einen finsteren Blick in eine Zukunft gewährt hat, die möglich gewesen wäre. Oder Djians »Betty Blue«, das mich ein ganzes Lebensjahrzehnt intensiv begleitet hat. Ein vollkommen subjektive Auswahl. Und bei jedem Buch, das ich neu aufschlage, bin ich gespannt, ob es sich wohl in diese Sammlung einreihen wird. Es hört nie auf, unzählige unentdeckte Schätze warten darauf, gehoben zu werden –  und das ist das Schöne an der Beschäftigung mit Literatur.

Inzwischen gibt es noch mehr Beiträge zum Thema. Thomas Brasch schreibt auf seinem Blog brasch & buch sehr lesenswert darüber und Jochen Kienbaum hat in einem der untenstehenden Kommentare angekündigt, sich auf seinem Blog lustauflesen.de auch dazu zu äußern (Nachtrag: Hat er inzwischen gemacht, herausgekommen ist ein sehr lesenswerter Text!). Und auch im Bücherstadt Kurier gibt es einen schönen Beitrag darüber zu lesen.

Das Online-Magazin Tell hat dafür eine ganz eigene – und wie ich finde – sehr charmante Vorgehensweise entwickelt: Autoren der Weltliteratur kommen zu Wort. Und so erzählen uns W.H. Auden, Ezra Pound, Ossip Mandelstam und Virginia Woolf, was für sie große Literatur ausmacht.

16 Antworten auf „Die Gretchenfrage nach der Axt“

  1. Liebe Sophie, lieber Uwe, ich poste dies als Doppelkommentar hier wie da.
    Danke für das Anschieben der interessanten Diskussion. Sie beschäftigt mich heute morgen so sehr, dass mein eigentlich geplanter Beitrag zu Humboldts „Kosmos“ (große Literatur übrigens ;-) ) erst mal liegen bleibt.
    Zum Thema: ich denke, der Pudelkern bei diesem Thema liegt darin, zwischen subjektivem Empfinden und objektiven Maßstäben zu unterscheiden. In Euren und auch nachfolgenden lesenswerten Beiträgen ist oft von „persönlich“, „für mich“, „privat“ und „in meinen Augen“ (u.ä.) die Rede. Diese Freiheit steht jedem zu, ohne Frage.
    Aber!! Gibt es objektive Kriterien für große Literatur?? Ich denke, ja, maße mir aber nicht an sie hier ad hoc aus dem Ärmel zu schleudern. Gebt mir ein wenig Bedenkzeit, dann starte ich meinen bescheidenen Versuch. Versprochen. (Oh, er wird mißlingen, fürchte ich. Doch nur durch Versuch wird man kluch.)
    Der oben verzinkte „Klassiker-Beitrag“ von Buchpost übrigens nimmt da sehr interessante Kriterien ins Visier und trifft die richtige Ziele.
    Nochmals danke dafür, dass Ihr zum mich sehr zum denken angeregt habt … und eine angenehme Woche ohne Stress und Sorgen.
    lg_jochen

    1. Lieber Jochen, objektive Kriterien zu finden ist sicher möglich, aber ganz bestimmt nicht einfach – zu subjektiv ist das Empfinden und jeder Mensch liest ein Buch ganz anders. Bin aber jetzt schon sehr gespannt auf Deinen Versuch.

  2. Ein wirklich wundervoller Beitrag, der sehr stark zum Nachdenken anregt. Manche Bücher fliegen einfach vorbei, andere bleiben, setzen sich nieder, schlagen Wurzeln und sind schließlich nicht mehr wegzudenken.
    Wenn ich lese, wie schön Sie darüber schreiben, werde ich ganz rührseelig. Da drängt es mich direkt zum Bücherregal, um all die Lieblinge mal wieder hervor zu holen.

    Vielen Dank und liebe Grüße

    1. Vielen Dank für die netten Worte. In vielen Büchern habe ich Textstellen markiert und es ist sehr spannend, viele Jahre später nachzulesen, was einem damals wichtig war – und oft immer noch ist…

  3. Wie subjektiv die Definition von »großer Literatur« ist, sieht man allein an den unterschiedlichen Beispielen, die man anführt – meine Auswahl sähe ganz anders aus als deine, obgleich ich ähnliche Maßstäbe anlege wie du und auch Sophie. Aber deine Liste erinnert mich daran, dass ich unbedingt mal Djians Betty Blue lesen muss, das schwirrt schon seit Ewigkeiten in meinem Kopf herum.

    1. Ja, das stimmt. Es gibt viele Bücher, von denen ich begeistert war, die aber mir nahestehenden Freunden gar nicht gefallen haben – und umgekehrt. Deshalb ist es auch so schwierig, einen objektiven Maßstab festzulegen.

  4. Interessant, dass sich die Frage gerade an diesem Buch entsponnen hat – wir haben gerade auch so eine anfangende, in diese Richtung gehende Diskussion innerhalb unserer Lesegemeinschaft und es betrifft auch „The Circle“. Ich selbst habe das Buch nicht gelesen und werde es wohl auch eher nicht, weil ich mir der Brisanz des Themas durchaus bewusst bin – oder vielleicht genau deshalb?
    Große Literatur empfinde ich genauso wie Du es hier beschreibst: sie rührt mich an. Und wenn es ganz grandios ist, dann ist sie auch noch sprachlich phantasitsch.
    Hab dank für diesen Beitrag!

    1. Vielen Dank für Dein Feedback, es freut mich, wenn Dir der Beitrag gefallen hat. Und ja, es ist schon bemerkenswert, dass sich ausgerechnet über Twitter ausgerechnet wegen dieses Buches eine solche Aktion ergeben hat…

    1. Hallo Anna,
      vielen Dank für den Link, das ist ein toller Text. Sehr schön finde ich das Zitat: „Wenn der Funke nicht überspringt, ist nichts zu machen: die Klassiker liest man nicht aus Pflicht oder Respekt, sondern nur aus Liebe.“ Genau so ist es, wir können schließlich nur ein sehr begrenzte Menge an Büchern im Laufe unseres Lebens lesen – da sollte man schon Freude daran haben…

      1. Danke dir. Die von euch angestoßene Diskussion – toll, wenn Jochen da auch noch was zu beisteuert – hat für mich gerade die Frage aufgeworfen, ob ich nicht viel häufiger zu den Büchern greifen sollte, die schon längst auf meiner Liste der großen Literatur stehen. Man/ich lese so vieles, was letztlich doch mehr oder weniger spurlos an mir vorüberzieht. Vielleicht sollte ich da wieder geiziger mit meiner Lese- und Lebenszeit sein. Liebe Grüße und eine prima Woche, Anna

  5. Ich sehe, lieber Uwe, wir kommen ja letztlich doch zu ganz ähnlichen Ergebnissen. In mir hat, um nochmal Dave Eggers, quasi unseren Initiator wachzurufen, der Circle viele grundsätzliche Überlegungen über Social Media, Internetidentität, Verschmelzung mit dem Leben offline und den Stellenwert angestoßen, den wir all diesen Dingen einräumen. Jetzt mal abgesehen von der, für mich, sehr gut konstruierten Tatsache, dass die meisten dort entwickelten Erfindungen zunächst einmal der guten Sache dienen sollen. Und das überschneidet sich doch sehr mit unserer Realität, in der zunehmende Überwachung und Datenspeicherung auch als etwas verkauft wird, das doch eigentlich Gutes bewirkt. (Verbrechensbekämpfung, Sicherheit, Wohl der Allgemeinheit usw.) .. ob ich das nun große Literatur nenne, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall ist es eines der Bücher, die mich noch über dieses Jahr hinaus beschäftigen werden.

    1. Liebe Sophie, da gebe ich dir recht, das ist letztendlich auch das, was „Der Circle“ für mich zu einem lesenswerten Buch gemacht hat. Man beginnt sich Gedanken über die Zweischneidigkeit moderner Kommunikation zu machen – die man gleichzeitig aber auch auf keinen Fall missen möchte. Denn sonst wäre ja auch unsere schöne Aktion gar nicht zustande gekommen…

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