Der Funke in der Munitionsfabrik

Henrik Rehr: Der Attentaeter

Terroristische Anschläge und deren Gründe beherrschen die aktuelle Nachrichtenlage. Aber sie sind kein neues Thema, denn Attentate aus politischen, ideologischen oder fanatisch-religiösen Anlässen gibt es schon immer. Vor etwas mehr als einem Jahrhundert setzten die Schüsse des serbischen Terroristen Gavrilo Princip die halbe Welt in Brand, als er in Sarajevo den östereichisch-ungarischen Thronfolger und dessen Frau erschoß. Serbe, Nationalist, Terrorist – wer war dieser Princip? Wie wurde er zu einem Attentäter, der bereit war, sein eigenes Leben für diesen Anschlag wegzuwerfen? Was waren seine Beweggründe? Darüber gibt ein ganz besonderes Buch Auskunft, die Graphic Novel »Der Attentäter« von Henrik Rehr. Der Untertitel macht das Anliegen des Autors und Zeichners deutlich, »Die Welt des Gavrilo Princip« zu beschreiben.

Graphic Novels sind für mich ein unbekanntes Terrain, nur zögerlich lerne ich dieses Genre zu schätzen und bin zunehmend interessierter. Jetzt taste ich mich weiter vor, diesmal also eine Graphic Novel zu einem geschichtlichen Thema. Kann das funktionieren? Es kann. Oder besser gesagt, ich bin völlig begeistert von der Umsetzung und es ist bisher der ungewöhnlichste Titel in meinem Leseprojekt zum Ersten Weltkrieg. Der Zeichner schafft es, ein bekanntes Ereignis, dessen Ausgang jeder kennt, neu zu erzählen. Seine düsteren, ausschließlich in schwarzweiß gehaltenen Zeichnungen bauen dabei eine immense Spannung auf, denn das dilettantisch organisierte Attentat wäre mehrmals schon beinahe im Vorfeld gescheitert, man fiebert regelrecht mit und denkt unwillkürlich, dass vielleicht doch noch alles gut enden könnte. Ein Drama, dessen Ausgang gewiss ist.

Die Handlung  beginnt mit den Geburten des Erzherzogs Franz Ferdinand und Gavrilo Princips, zweier Männer, die sich nie persönlich kannten und die das Schicksal doch unbarmherzig aufeinander zutreiben ließ. Die ärmliche Herkunft Gavrilo Princips wird gezeigt, seine Ankunft als mittelloser Gymnasiast in Sarajevo, die Stimmung unter seinen serbischen Freunden und Bekannten, deren anarchistisch-sozialistische und gleichzeitig serbisch-nationalistische Attitüde, die immer fanatischer werdenden Gespräche und die endgültige Radikalisierung nach der Besetzung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn im Jahr 1908. Gavrilo Princip ist orientierungslos, leidet unter Schwindsucht, sucht einen Sinn für sein Leben.

Princip beginnt seine Bestimmung darin zu sehen, für die serbische Sache zum Märtyrer zu werden und auch die Liebe zur schönen Jelena kann ihn nicht davon abbringen. Oder, wie es ein Bekannter von ihm, abgestoßen durch Princips immer radikaler werdende Ansichten in einem Gespräch ausdrückt: »Wenn jemand mit dem Leben nicht zurechtkommt, wird er vermutlich immer etwas finden, für das es sich zu sterben lohnt.« Ein zeitloser Satz.  Offensichtliche und eingebildete Ungerechtigkeiten treiben Gavrilo Princip an, bis zu einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Gleichzeitig sehen wir immer wieder kurze Bildeinschübe, die vom Werdegang Franz Ferdinands berichten, von den politischen Entwicklungen auf dem Balkan, den beiden Balkankriegen, mit denen schon die Lunte an das Pulverfass Europa gelegt wird.

Gavrilo Princip und ein paar ähnlich radikalisierte Freunde bilden so etwas wie eine Terrorzelle, doch sie sind nichts weiter als ein paar unbedarfte Schüler und Studenten, junge Männer, die davon träumen, die Geschichte ihres serbischen Vaterlands zu ändern und mitzuhelfen, ein großserbisches Reich auf dem Balkan zu errichten. Als sie erfahren, dass der österreichisch-ungarische Thronfolger Sarajevo besuchen wird, beginnen sie über einen Anschlag auf ihn nachzudenken, um die verhasste Donaumonarchie bis ins Mark zu erschüttern. In einem konsequenten nächsten Schritt nehmen sie Verbindung zur Gruppe »Schwarze Hand« auf, eine serbische Terrororganisation mit weitverzweigten Verbindungen bis hoch hinein in den serbischen Regierungsapparat. Sie erhalten Waffen und kleine Bomben, werden kurz daran ausgebildet und auf Schleichwegen über die Grenze zurück nach Sarajevo geschickt. Ab diesem Moment tickt die Uhr.

Es gibt ein paar halbherzige Versuche seitens des serbischen Ministerpräsidenten, die Gruppe zu stoppen, sogar ein etwas verklausulierter Warnbrief erreicht den Erzherzog. Doch alles geht seinen Gang. Der Rest ist Geschichte. Zu Recht untersuchen die neueren Forschungen zum Ersten Weltkrieg etwas genauer als zuvor die Verwicklung der serbischen Regierung in die Geschehnisse. Die engen Kontakte zu einer gewaltbereiten Untergrundorganisation wie der Schwarzen Hand würde man heute wohl als eine Art Staatsterrorismus bezeichnen.

Die eindrücklichen Bilder der Graphic Novel erzeugen eine beängstigende Atmosphäre, die umso stärker wirkt, da man als Leser weiß, was auf ganz Europa zukommen wird. Immer wieder blitzen Bilder dazwischen auf, die zerschossene Wälder, Pferdekadaver oder Granateinschläge zeigen – und nehmen das Kommende gedanklich vorweg. Wir sehen den Erzherzog bei der Anreise, erleben, wie die Attentäter sich bereit machen, unsichere Persönlichkeiten, aber entschlossen, ihr Leben zu opfern, um ein anderes Leben zu nehmen. Der stärkste Moment ist der, als Gavrilo Princip mit gezogener Pistole vor dem Wagen des Erzherzogs steht, die Bilder zeigen die Gesichter, die Waffe, springen zwischen den Augenpaaren hin und her. Wird er schießen? Er wird, wir wissen es.

Der Autor hält sich eng an die historischen Ereignisse, wertet nicht, sondern beschreibt in Bild und Wort die Geschehnisse, erfindet Dialoge, wie sie vielleicht, möglicherweise, wahrscheinlich geführt wurden. Wie in einem finsteren und hoffnungslosen Schwarzweiß-Film strebt die Handlung zum dramatischen Höhepunkt. Doch ganz zu Beginn steht ein Zitat; ein wahrhaft prophetisches Zitat Bismarcks aus dem Jahr 1878: »Europa ist heute ein Pulverfass, und seine Regenten agieren wie Männer, die in einer Munitionsfabrik rauchen. Ein einziger Funke kann eine Explosion auslösen, die uns alle verschlingt. Ich weiß nicht, wann es zur Explosion kommt, aber ich kann sagen wo. Irgendetwas Verrücktes auf dem Balkan wird der Beginn der Katastrophe sein.« 

Die Schüsse Gavrilo Princips waren dieser Funke.

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Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.

Buchinformationen
Henrik Rehr, Der Attentäter – Die Welt des Gavrilo Princip
Verlagshaus Jacoby & Stuart
ISBN 978-3-942787-46-8 

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2 Antworten auf „Der Funke in der Munitionsfabrik“

  1. Lieber Uwe,
    vielen Dank für diesen Hinweis! Da sieht man, wie interessant und vielgestaltig dieses Leseprojekt ist, das wir ja beide unabhängig voneinander betreiben.
    Beste Grüße
    Norman

    1. Ja, es ist faszinierend, was da alles so zusammenkommt. Und auch bei diesem Buch ist der aktuelle Bezug wieder mit beiden Händen greifbar. Bin schon gespannt, wie es bei Deinem Leseprojekt weitergeht.
      Herzliche Grüße
      Uwe

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