Wollt ihr die totale Transparenz?

Dave Eggers: Der Circle

Vor ein paar Jahren behauptete eine Kollegin voller Überzeugung, dass man über sie nichts im Internet finden würde. Nach einer fünfminütigen, unangestrengten Google-Recherche wusste ich ihren zweiten Vornamen und ihre Mobiltelefonnummer. Aber das ist vollkommen harmlos, jedenfalls im Vergleich zu der völligen Transparenz, die zu erreichen sich die Firma Circle auf die Fahnen geschrieben hat. Circle ist so eine Art Über-Google, ein fiktives Unternehmen in einer nahen, sehr nahen Zukunft und der  Namensgeber von Dave Eggers Roman: »Der Circle«.

In Circle sind alle großen Social-Media-Unternehmen aufgegangen, durch einen ganz einfachen Trick, eine Idee des genialen Programmierers Ty Gospodinov. Er schuf eine elegante Lösung, mit der jeder Internet-User nur noch einen einzigen Account brauchte, um sich überall im Netz zu bewegen. In diesem Account wurden einfach alle vorhandenen Zugangsdaten hinterlegt, egal ob für Facebook, für Twitter, das Online-Banking oder auch nur für die örtliche Stadtbibliothek. Klarnamenzwang war obligatorisch, eine einzige virtuelle Identität für alles. Ty, der geniale aber sozial unbeholfene Nerd, gründete zusammen mit Tom Stenton, einem gnadenlosen Raubtierkapitalisten à la Jeff Bezos, und dem graumelierten, kumpelhaften Transparenz-Visionär Eamon Bailey die Firma Circle. An der Börse wurden die Milliarden eingesammelt.

Der Roman beginnt mit dem ersten Arbeitstag von Mae Holland bei Circle, die ihr Glück nicht fassen kann. Aus einem öden Provinznest kommend hat sie einen Job in der coolsten und gefragtesten Firma der Welt bekommen – mit ein wenig Hilfe von ihrer Highschool-Freundin Annie, die zu den vierzig Topmanagern des Unternehmens gehört. Und die nächsten 80 Seiten passiert dann erst einmal nicht viel, zumindest an der Oberfläche. Mae wird eingearbeitet, und sie tut sich anfangs schwer mit den offiziell entspannten Umgangsformen auf dem Campus – so wird das Firmengelände genannt, eigentlich eine richtige Stadt mit ultramodernen Gebäuden, viel Glas, viel Licht, Transparenz eben. Über 10.000 Menschen arbeiten hier, feiern hier, etliche wohnen schon hier. Das Miteinander, die Teilnahme an Events und Partys, die Partizipation wird enorm groß geschrieben und ist ein wichtiger Bestandteil der Unternehmenskultur, nein, dies ist die Unternehmenskultur. Mae wird durch Hinweise ihrer Vorgesetzten und der HR-Beauftragen erst dezent, dann deutlicher darauf hingewiesen, dass von ihr erwartet wird, aktiver Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Nach ein paar Fettnäpfchen beginnt sie, sich in der firmeninternen wie -externen Social-Media-Community einzubringen. Erst zögernd, dann immer selbstverständlicher. Eine firmenweite Rankingliste zeigt ihr minutengenau, auf welchem Platz sie mit ihren sozialen Aktivitäten steht. Totale Transparenz eben. Schön, wie in den Dialogen die typische begeistert-verbindliche, pathetische Sprechweise persifliert wird, die man von amerikanischen Firmenkulturen kennt. Amazons Claim »Work hard. Have fun. Make history« könnte dabei geradezu Pate gestanden haben.

Der gemächliche Erzählstrom verdeutlicht dieses langsame Verinnerlichen, so dass auf den ersten achtzig Seiten genau genommen doch einiges passiert, unterschwellig eben. Dann kommt die erste Präsentation eines neuen Programms, an der Mae und der Leser teilnehmen und die Geschichte beginnt Fahrt aufzunehmen. »SeeChange« heißt es und es besteht aus winzigen Webkameras, die millionenfach überall auf der Welt verteilt werden sollen und gestochen scharfe Bilder liefern – ohne dass die Gefilmten davon etwas mitbekommen. Eamon Bailey präsentiert die Kameras mit den Worten »Alles, was passiert muss bekannt sein.« Er schwärmt von einer Zukunft, in der kein Polizist mehr einen Demonstranten niederknüppeln kann, da er nicht weiß, ob nicht die halbe Welt zuschaut. Diktatoren werden gestürzt, es wird keine Grauzonen mehr geben. Dafür aber flächendeckende Überwachung des Privatlebens, doch das denkt nur der Leser, denn Mae und die anderen Circler sind begeistert. Und die Kameras treten ihren Siegeszug um die Welt an. Bald schon beginnen Politiker solche Kameras um den Hals zu tragen, um die totale Transparenz in der Politik zu demonstrieren. Circle und Staat fangen an, miteinander zu verschmelzen, die Auflösung der Demokratie beginnt, irgendwann könnten Votings gewählte Regierungen ersetzen und der transparente Mob die Macht übernehmen – gesteuert von den Herren der Daten. Die Vision eines totalitären Staates mit gläsernen Bürgern.

Circle geht mit gutem Beispiel voran und wird eine vollständig transparente Firma, die gesamte Welt kann den Mitarbeitern bei der Arbeit zusehen, nur auf den Toiletten dürfen keinen SeeChange-Kameras installiert werden. Mae ist inzwischen überzeugte Circlerin, auch die diffusen Warnungen eines ihr unbekannten Kollegen, der nach Belieben auftaucht und wieder verschwindet, den aber niemand zu kennen scheint, können sie nicht davon abbringen. Es kommt zur Konfrontation mit ihren Eltern und ihrem Ex-Freund Mercer, die dem Treiben ihrer Firma nichts abgewinnen können. »Selbst wenn ich von Angesicht zu Angesicht mit dir spreche, erzählst du mir, was irgendein Fremder von mir denkt. Es ist langsam so, als wären wir nie allein. Du schaust mich immer durch die Augen von hundert anderen Leuten an,« sagt Mercer ihr, als sie immer mehr in ihrem sozialen Netz zu leben beginnt. »Die Tools, die ihr schafft, erzeugen unnatürlich extreme soziale Bedürfnisse. Kein Mensch braucht diese Menge an Kontakt, die ihr ermöglicht. Das verbessert nichts. Es ist nicht gesund. Es ist wie Junkfood. Du hast keinen Hunger, du brauchst kein Junkfood, es gibt dir nichts, aber du isst weiter diese leeren Kalorien. Und genau dass fördert ihr. Genau das Gleiche. Endlose leere Kalorien, aber eben die digital-soziale Entsprechung.« Mercier ist so eine Art analoges Gewissen in der Handlung, seine Sätze gehören zu den stärksten Stellen des Buches, denn sie lassen einen unwillkürlich über seine eigenen Netzgewohnheiten nachdenken. 

Maes Karriere beim Circle geht rasant weiter, die gesellschaftliche Transparenz, die diese Firma mit ungeahnten technischen Möglichkeiten vorantreibt, ist faszinierend. Und sehr beunruhigend gleichzeitig, denn der Circle soll geschlossen, zum perfekten Kreis werden. Jeder der bisher drei Milliarden Circle-User wird alles über jeden wissen können: »YouthRank« vergleicht die schulischen Leistungen aller erfassten Kinder, »ChildTrack« ist ein Sender, der Säuglingen in den Knochen einoperiert wird, eigentlich um Entführungen zu verhindern, dann natürlich ein Leben lang mitwächst und alle Daten über den Träger sammelt, die »SeeChange«-Kameras werden nicht mehr aus dem täglichen Leben wegzudenken sein, das Programm »PastPerfect« wird die Vergangenheit jedes Menschen erforschen und erfassen. Alle werden gläsern, es gibt kein Entkommen, »Geheimnisse sind Lügen, alles Private ist Diebstahl.« 

Eine Gesellschaft auf dem Weg zum perfekten Menschen, denn wenn jeder alles über mich weiß, werde ich mich niemals danebenbenehmen, mich niemals gehen lassen. Ich werde vollständig angepasst sein. Und damit meine Individualität, meine Freiheit verlieren. Und wieder findet Mercer dazu die passenden Worte: »Wir sind nicht dafür geschaffen, alles zu wissen. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass unser Verstand möglicherweise auf das Gleichgewicht zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten justiert ist? Dass unsere Seelen die Geheimnisse der Nacht und die Klarheit des Tages brauchen? Ihr schafft eine Welt mit ständigem Tageslicht, und ich glaube, es wird uns alle bei lebendigem Leib verbrennen.«

Was wird aus Mae? Was aus Mercer? Was aus Maes Eltern? Wer ist der unbekannte Kollege? Gibt es ein Entrinnen vor der totalen Transparenz? Die Romanhandlung spitzt sich dramatisch zu und eskaliert, aber ein Daten-Thriller wie etwa »Zero« ist das Buch nicht. Ich habe es als Parabel gelesen – nicht auf Google, sondern auf unsere hochtechnisierte Gesellschaft, die jeden Fortschritt bejubelt und manchmal vergisst, auch rechts und links des Weges zu schauen. Kein Spannungsroman, aber ein sehr lesenswertes Buch, das den Weg in eine transparente Zukunft schildert. Transparent, ohne Privatsphäre und sehr düster. Für die Schriftstellerin Juli Zeh ist deshalb „Der Circle“ einen »großer, wichtiger Beitrag zu einer gesellschaftlichen Debatte.«

So, genug geschrieben. Jetzt noch schnell mal Facebook checken, mal eben etwas twittern und noch kurz ein Photo auf Instagram posten. Denn das ist die Zwickmühle: Soziale Medien gehören zu unserem Leben, zu unserer Welt. Ein bewusster Umgang damit ist wichtiger den je. Und zwar ganz ohne Tracking-Chip im Knochen.

Dies ist ein Titel des aus einer Twitter-Idee entstandenen Leseprojekts Schöne neue, paranoide Welt.

Buchinformation
Dave Eggers, Der Circle
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel

und Klaus Timmermann
Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-04675-5

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8 Antworten auf „Wollt ihr die totale Transparenz?“

  1. Ich habe das Buch auch weitestgehend gelesen, musste aber kurz vor Schluss abbrechen, da ich zwischenzeitlich in einer WG gewohnt habe und ich vor meiner Abreise nicht mehr durchgekommen bin. Aber wenn man das Buch gelesen hat und dann die aktuellen Berichte über das Unternehmen Facebook liest, das eine Stadt bauen will, wird einem ganz anders. Ich denke darüber nach, ob ich mir das Buch kaufe, obwohl mir nur noch rund 50 Seiten bis zum Ende fehlen. Und ich hoffe, niemand aus der WG hat gemerkt, dass ich mir heimlich das Buch aus dem Regal „geliehen“ habe. Tatsächlich hatte ich mal den Raum abgesucht, ob da irgendwo eine Kamera installiert war. Auf diesen Gedanken wäre ich normalerweise nie gekommen, aber der Roman hat mich vorsichtig werden lassen.
    P.S. Dein Blog ist sehr gut layoutet. Vor allem gefallen mir Deine Fotos, das wertet die Bücher richtig auf und zeigt, wieviel Respekt Du vor Ihnen hast. Beste Grüße

  2. Habe mich nach den Kritiken vor einigen Tagen dazu bewogen, mir auch „Der Circle“ zu holen. Ich finde das Thema interessant, das Dilemma des Lesers fasst du sehr schön im letzten Absatz zusammen.

    Die Parabel, wie du sie nennst, fand ich gut gewählt, lässt bzw. fordert viele Reflexionen unsers eigenen Lebens. Aber irgendwo da, in den nicht ganz so hohen Sphären von Beiles Bibliothek, stößt das Buch dann an seine Grenzen.

    Eggers schreibt nett, aber nicht überragend gut. Die Charaktere bleiben für mich hauptsächlich Hüllen, Mae selbst wirkt auf beiden Augen blind, verschwendet keinen Gedanken an Kritik, wirkt total Gehirngewaschen. Schwer zu sagen, ob das Absicht oder Unterlassen war.

    Mit ein paar angezogenen Schrauben mehr, wäre für mich mehr in „Der Circle“ (schrecklicher Titel) gewesen.

    Liebe Grüße,
    Markus

    PS: Tolles Blog, werde definitiv öfter bei dir reinschauen :)

    1. Deine Kritik an dem Buch kann ich gut nachvollziehen, aber vielleicht ist Maes Oberflächlichkeit auch ein gewollter Kunstgriff des Autors?! Ich weiß es nicht, doch es passt zum Thema. Schwierig ist es, eine derartige Protagonistin über den ganzen Roman hindurch sympathisch zu finden oder zumindest ihr Handeln nachvollziehen zu können. Und da tue ich mich auch schwer. Aber das Buch regt auf jeden Fall zum Nachdenken an und deshalb hat sich die Lektüre schon gelohnt, finde ich. Und vielen Dank für dein Blog-Lob, das freut mich sehr. Ich werde auch mal bei Dir vorbeischauen.
      Herzliche Grüße
      Uwe

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