Literaturreise in die Berge

Franz-Tumler-Literaturpreis 2023

Das Unterwegssein ist mir ebenso wichtig wie das Lesen und die Beschäftigung mit Literatur – es sind essentielle Bestandteile meines Lebens. Und manchmal trifft beides zusammen: Am 21. und 22. September 2023 war ich eingeladen, als Gast bei der Vergabe des Franz-Tumler-Literaturpreises dabei zu sein. Die Reise führte nach Laas in Südtirol; eine Bahnfahrt von Köln über München, Bozen und Meran. Dann weiter. Die Züge wurden immer kleiner, schließlich ging es hoch hinauf in das Vinschgautal; Laas liegt etwa auf halber Strecke zwischen Meran und dem Reschenpass. Ich hatte im vorletzten Blogbeitrag die Tour unter dem Titel »Mit fünf Büchern in die Marmorstadt« angekündigt, aber mit etwa 4.100 Einwohnern hat der Ort eher dörflichen Charakter – doch der Marmor ist tatsächlich das prägende Element. Direkt am Bahnhof ein riesiges Depot aufgereihter Marmorklötze zur Weiterverarbeitung, die Fußwege im Dorfkern sind mit Marmor gepflastert, der Dorfplatz sowieso, es gibt einen Brunnen aus Marmor, sogar die Litfaßsäule im Zentrum trägt eine marmorne Überdachung. In 1.500 Meter Höhe wird er abgebaut; unter Tage, es sind riesige Höhlen mit weißen Wänden. Seit hunderten von Jahren gibt es die Marmorminen, der Abbau verleiht dem Dorf in Verbindung mit der allgegenwärtigen Vinschgauer Obstwirtschaft ein ganz eigenes Flair. Es ist ein besonderer Ort für eine ganz besondere Veranstaltung. „Literaturreise in die Berge“ weiterlesen

Lesend durch die Cafés der Stadt

Olivia Laing: Die einsame Stadt

Manchmal, nicht sehr oft, gönne ich mir etwas Auszeit und ziehe einen Tag lang von Café zu Café. Mit einem Buch als Begleiter. Einen Tag lang lesen, schauen, sitzen, schlendern, lesen, schauen, lesen, lesen – es sind intensive Lektüreerlebnisse. Bei der letzten Kaffeehaustour, wie ich diese Tage hier im Blog nenne, war ich in Berlin unterwegs. Und mit dabei hatte ich das Buch »Die einsame Stadt« von Olivia Laing. »Vom Abenteuer des Alleinseins« lautet der Untertitel; perfekt passend für einen Leser alleine im Café, dachte ich. Und wurde nicht enttäuscht. Olivia Laing schickte mich auf eine inspirierende Reise durch die Kunstwelt des 20. Jahrhunderts. Und durch die Straßen New Yorks, gleichzeitig schillernde Kulisse und Hauptprotagonistin des Buches. „Lesend durch die Cafés der Stadt“ weiterlesen

Mit fünf Büchern in die Marmorstadt

Franz-Tumler-Literaturpreis 2023: Die Nominierten

Eine Reise steht bevor, auf die ich mich schon sehr freue und die Überschrift deutet an, um was es gehen wird: Mit fünf Büchern in die Marmorstadt. Die Marmorstadt ist Laas in Südtirol. Der Marmor, das »weiße Gold«, das dort seit der Antike abgebaut wird, findet weltweit Verwendung; Beispiele sind das Queen-Victoria-Denkmal in London oder die U-Bahn-Station World Trade Center in New York

Die fünf Bücher, die mich auf der Reise begleiten, sind: »Drama« von Arad Dabiri, »oft manchmal nie« von Cornelia Hülmbauer, »Sommer in Odessa« von Irina Kilimnik, »Alpha Bravo Charlie« von Tine Melzer und »Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes« von Magdalena Saiger. Es sind fünf Debütromane und sie alle sind nominiert für den Franz-Tumler-Literaturpreis, der alle zwei Jahre in Laas vergeben wird. So auch diesen September und ich habe das große Vergnügen, als Gast dabei zu sein. In diesem Beitrag erzähle ich vorab über die fünf Bücher, die Jury und den Preis. Nach der Verleihung wird es einen Bericht darüber geben – mit Photos natürlich. „Mit fünf Büchern in die Marmorstadt“ weiterlesen

Eine Straße als Sehnsuchtsort

Amor Towles: Lincoln Highway

Der drängende Wunsch, unterwegs zu sein ist eines der prägendsten Gefühle meines Lebens. Ich liebe die Aufbruchsstimmung, wenn ein Zug Fahrt aufnimmt. Ich liebe das einen plötzlich überfallende Fernweh, wenn am Himmel ein Flugzeug in der Abendsonne glänzt. Und besonders liebe ich den Anblick einer Straße, die sich am Horizont im Nirgendwo verliert. Was für ein Symbol: Unterwegs sein zu Neuem, dem Stillstand entfliehen – und sei es lediglich in der Phantasie. Kann es etwas Schöneres geben? Daher musste ich keine Sekunde lang überlegen, als ich den Roman »Lincoln Highway« von Amor Towles sah – nur wegen des Covers war das Buch gekauft, bevor ich den Klappentext wahrgenommen hatte und ohne den hochgelobten Vorgängeroman des Autors – »Ein Gentleman in Moskau« – gelesen zu haben. 

Und dann noch der Titel. Lincoln Highway. Die erste Fernstraße der USA, die beide Küsten als eine durchgehende Strecke miteinander verband; vom Times Square in New York bis zum Lincoln Park in San Francisco. Ich freute mich auf die Lektüre, auf einen Roadtrip ins Ziellose Freute mich, die Protagonisten durch endlose Weiten zu begleiten, Meile um Meile, dem Ungewissen entgegen. Das waren die Assoziationen, die Cover und Titel in mir weckten. Und um das Fazit dieser Buchvorstellung an den Anfang zu stellen: Es war in der Tat ein Roadmovie, das mich begeistert, mich auf einen wilden Trip zu einem Neuanfang mitgenommen hat. Nur vollkommen anders, als gedacht. „Eine Straße als Sehnsuchtsort“ weiterlesen

Das Verschwinden der Leichtigkeit

Der Eiffelturm: Steinsockel eines Pfeilers

Braucht man ein großformatiges Buch mit Photos vom Bau des Eiffelturms und mit darin abgebildeten Originalbauplänen? Natürlich nicht. Wozu auch? Konnte ich daran vorbeigehen, als ich es im Schaufenster einer Buchhandlung sah? Auf keinen Fall. Und das hat mit einer Erinnerung zu tun, die schon ziemlich lange zurückliegt, die ich aber niemals vergessen werde. Deshalb ist der Band »The Eiffel Tower« aus dem Taschen Verlag jetzt in meinem Bücherregal eingezogen. Es ist der viersprachige Nachdruck des im Jahr 1900 erschienenen Prachtbands »Gustave Eiffels 300-Meter-Turm« und ein echtes Schmuckstück. Und ich erzähle eine alte Geschichte, die auf eine traurige Weise in unser Heute passt.  „Das Verschwinden der Leichtigkeit“ weiterlesen

Majestätische Hoffnungslosigkeit

Hernan Diaz: In der Ferne

Diejenigen, die schon länger in diesem Blog mitlesen, wissen, dass ich ein Faible habe für eher düstere Romane, deren Protagonisten ihrem Leben verloren gegangen sind. Getriebene, Einsame, Suchende – das sind meine literarischen Helden. Dieses Entwurzelte oder dieses Gefühl, komplett auf sich alleine zurückgeworfen zu sein, sind derart existenzielle Situationen, dass sie jene Romanfiguren zu Sinnbildern des Lebens an sich machen. Sie regen zum Nachdenken an, zur Beschäftigung mit den Gedanken, woher wir kommen, wohin wir gehen und was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist – und die viel schneller vorbei sein wird, als wir es uns in jungen Jahren vorstellen können. »In der Ferne« von Hernan Diaz ist daher ein Buch ganz nach meinem Geschmack. Und ist dabei etwas sehr Besonderes, denn noch nie habe ich einen Text gelesen, in dem die geschilderte Einsamkeit so überwältigend präsent war, wie in diesem. „Majestätische Hoffnungslosigkeit“ weiterlesen

North Bridge, Edinburgh

North Bridge, Edinburgh

Eine Weile habe ich überlegt, ob dieser Text in einen Literaturblog passt, denn mit Literatur hat er nichts zu tun – außer dass er im März 2021 im Buchhandels-Kundenmagazin KUDU erschienen ist. In der Rubrik »Ein Photo und seine Geschichte« erzählte ich dort, was ein Bild der North Bridge in Edinburgh für mich so besonders macht. Es geht darin um ein Erlebnis, das mir seit bald drei Jahrzehnten nicht mehr aus dem Kopf geht – und deshalb veröffentliche ich den Text nun auch hier auf Kaffeehaussitzer, inklusive einer englischen Übersetzung. Und vielleicht erhalte ich ja irgendwann doch noch eine Antwort auf die Frage, mit der dieser Beitrag endet. „North Bridge, Edinburgh“ weiterlesen

Ins Leben geworfen

Rolf Lappert: Leben ist ein unregelmaessiges Verb

Ins Leben geworfen: Selten war diese Formulierung passender als für die vier Protagonisten des Romans »Leben ist ein unregelmäßiges Verb« von Rolf Lappert. Frida, Ringo, Leander und Linus wachsen in den Siebzigerjahren in einer Landkommune irgendwo in Norddeutschland auf, abgeschirmt von sämtlichen Eindrücken der Außenwelt. Doch es ist keine Idylle, sondern das Aussteigerprojekt eines Trüppchens Erwachsener, die fernab der Gesellschaft leben möchten und ihren Kindern jeglichen Kontakt nach außen verweigern; sie nicht einmal wissen lassen, wer von ihnen die jeweiligen Eltern sind. Statt Schulbildung gibt es viel Arbeit auf dem Hof, statt dem Aufbau sozialer Kontakte das abgeschottete Kommunenleben. Es ist das Jahr 1980, als die Behörden die Hofgemeinschaft auflösen, den Eltern das Sorgerecht entziehen und die vier Kinder weit voneinander entfernt in Pflegefamilien unterbringen. Damit beginnt der Roman. Und damit beginnen vier Geschichten, die unterschiedlicher nicht sein können, die aber eines eint: Jeder der vier versucht, seinen Weg ins Leben zu finden. Und jeder dieser Wege besteht aus verschlungenen Pfaden, unvorhergesehenen Abzweigungen und der ein oder anderen Sackgasse. „Ins Leben geworfen“ weiterlesen

Zur anderen Seite der Welt

Antonin Varenne: Aequator

Im Roman »Äquator« erzählt Antonin Varenne die Geschichte eines Mannes auf der Flucht vor sich selbst: Pete Ferguson ist ein Getriebener, ein steckbrieflich Gesuchter, der sich im Nebraska des Jahres 1871 auf den Weg in Richtung Äquator macht. Denn dort im tropischen Nirgendwo, so glaubt er, wird er sein Leben neu beginnen können. Varenne hat bereits mit »Die sieben Leben des Arthur Bowman« den Abenteuerroman stilistisch in unsere Zeit geholt. Mit »Äquator« gelingt ihm dies erneut. „Zur anderen Seite der Welt“ weiterlesen

Das Ende des Davonlaufens

Salih Jamal: Das perfekte Grau

Wenn ich ein Buch aufschlage, dann schaue ich instinktiv, ob auch ein Bleistift in Reichweite liegt, mit dem ich die Stellen, die den Text für mich besonders machen, markieren kann. Beim Roman »Das perfekte Grau« von Salih Jamal allerdings hatte ich den Bleistift fast von Beginn an in der Hand und habe ihn über weite Strecken des Buches nicht mehr losgelassen. Gleich auf den ersten Seiten stieß ich auf eine Stelle, die mich schon innehalten ließ, bevor die Geschichte richtig gestartet war. „Das Ende des Davonlaufens“ weiterlesen

Die Reise ins Nirgendwo

Alma Katsu: The Hunger - Die letzte Reise

Der lange Weg nach Westen gehört zu den Gründungsmythen der USA. Die Bilder dazu in unseren Köpfen verdanken wir Hollywoods Traumfabriken: Planwagenkolonnen, die durch eine endlose Prärie ziehen, hoffnungsvolle Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. Die harte Wirklichkeit sah anders aus, denn abgesehen davon, dass die Besiedlung des Westens einherging mit der gewaltsamen Vertreibung der indigenen Bevölkerung, waren es keine heldenhaften Pioniere, die Wagen an Wagen in Richtung Abendröte zogen. Sondern Familien, die nichts zu verlieren hatten, die aufgebrochen waren, um der Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen; Gücksritter waren dabei, die alles auf eine Karte setzten, Entwurzelte, aber auch Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren und eine zweite Chance suchten. Und längst nicht alle überstanden die monatelange Reise durch eine raue Natur, die lebensbedrohlich werden konnte. Die Opfer forderte und manchmal für furchtbare Tragödien verantwortlich war. Von einer dieser Tragödien erzählt die Autorin Alma Katsu in ihrem Roman »The Hunger« – mit dem vielsagenden Untertitel »Die letzte Reise«. „Die Reise ins Nirgendwo“ weiterlesen

Lesestoff. Mit Erinnerungen

Eine bedruckte Stofftasche ist oft viel mehr als nur ein Werbeträger – sie ist ein Statement. Von einigen Buchbegeisterten weiß ich, dass sie Taschen mit literarischen Motiven leidenschaftlich gern sammeln. Ich würde das nicht von mir behaupten, aber trotzdem sind in den letzten Jahren einige davon zusammengekommen. Und jede von ihnen erinnert mich an eine Reise oder ein besonderes Erlebnis, immer im Zusammenhang mit Büchern oder Literatur. Die Stofftaschen sind alle nicht mehr taufrisch, denn sie sind in ständiger Benutzung – meist, um die Bücher darin einzuwickeln, die mich tagsüber begleiten. „Lesestoff. Mit Erinnerungen“ weiterlesen

Über das Unterwegssein

Ueber das Unterwegssein

Die Qualität des Beitragsphotos mag nicht besonders gut sein, doch es gibt nur wenige Bilder, die mir so viel bedeuten wie dieses hier. Entstanden ist es im Mai 1993, irgendwo mitten in Australien zwischen Alice Springs und der Ostküste. Ein Vierteljahr lang war ich auf dem fünften Kontinent unterwegs, ließ mich treiben, hatte kein Ziel, keine Verpflichtungen und keine Pläne. Es war für mich die Zeit der großen Freiheit, und die einzigen beiden Fragen, mit denen man sich täglich auseinandersetzen musste, lauteten: Wo schlafe ich heute Nacht? Und wie komme ich dorthin?

Das alles ist inzwischen 27 Jahre her und doch vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an diese drei grandiosen Monate denke. Vielleicht ist es nicht nur jene Freiheit, die in Erinnerung geblieben ist, sondern auch das belebende Gefühl des Wegseins. Weit weg von allem. Es war ein Unterwegssein ohne Tripadvisor, ohne Booking.com, ohne Travel-Blogs und ohne Instagram-Selbstinszenierungen; meine einzige Informationsquelle war ein zerlesener Lonely Planet »Australia«, den ich in einem Hostel aus dem Regal der zu verschenkenden Bücher gefischt hatte. „Über das Unterwegssein“ weiterlesen

Menschen auf der Suche

Doris Knecht: weg

Menschen, die auf der Suche sind: Dies ist wohl das literarische Motiv überhaupt. Es gibt unzählige Varianten, und ich werde nicht müde, die Protagonisten der unterschiedlichsten Romane dabei zu begleiten, wie sie losziehen, um etwas zu finden. Einen Weg, eine Zukunft, eine verschwundene Person – und dabei meist auch sich selbst. Auch wenn die Ausgangslagen oft ähnlich erscheinen mögen, sind die Ausgestaltungen der Handlungen immer wieder neu. Und mit »weg« hat Doris Knecht eine sehr gelungene hinzugefügt. „Menschen auf der Suche“ weiterlesen

Mit Goethe im R4

Dieser Beitrag war schon länger geplant. Angesichts der dramatischen Folgen der Corona-Pandemie war ich mir nicht sicher, ob dies der richtige Zeitpunkt für eine solche Buchvorstellung ist. Denn es mag makaber wirken, gerade jetzt von diesem grandiosen Buch zu schwärmen. Doch andererseits zeigt es uns durch seine Entstehungsgeschichte die Dimension der aktuellen Geschehnisse. Und es hat zudem – so finde ich – auch etwas Tröstliches. Doch dazu später. Erst einmal sollte ich erzählen, um welches Buch es eigentlich geht.

Der Photograph Helmut Schlaiß hat sich mit seinem Projekt »Italienische Reise« einen langgehegten Traum erfüllt. Denn es handelt sich dabei nicht um irgendeine italienische Reise, sondern um diejenige von Johann Wolfgang von Goethe, der zwischen September 1786 und Mai 1788 lange in seinem Arkadien unterwegs war. Seine »Italienische Reise« ist die Grundlage dieses Buches; Helmut Schlaiß reiste jahrelang auf den Spuren des berühmten Dichters, in seinem alten R4-Kastenwagen – notdürftig zu einem mobilen Schlafplatz umgebaut – folgte er der von Goethe beschriebenen Route. Der Orignaltext ist im zweiten Teil des großformatigen Werkes komplett abgedruckt. „Mit Goethe im R4“ weiterlesen