Düstere Ödnis

Massimo Carlotto: Am Ende eines öden Tages

Giorgio Pellegrini ist wohl einer der unsympathischsten Romanhelden, denen man in einem Leserleben begegnen kann. Ein Mörder, Betrüger, Verräter, Dieb und Hochstapler – der Autor Massimo Carlotto erzählt in »Am Ende eines öden Tages« dessen Geschichte. Und es ist kaum vorstellbar, aber als Leser beginnt man im Laufe der Story widerwillig mit dem Protagonisten mitzufiebern – vielleicht, weil man tief in eine Welt eintaucht, in der moralische Maßstäbe nicht mehr gelten. Oder zumindest so verschoben sind, dass Giorgio Pellegrinis Handlungen in all ihrer Verwerflichkeit als Mittel zum Zweck zwar nicht entschuldbar, aber nachvollziehbar werden. Ein Kriminalroman voller Sarkasmus, Zynismus und Düsterkeit. „Düstere Ödnis“ weiterlesen

Am Leben bleiben

Anthony Price: Die Chandos-Falle

Frühmorgens sieht Jack Butler am Ufer der Loire die Morgendämmerung heraufziehen. Langsam taucht die andere, die südliche Seite des Flusses im Dunst auf; Baumgruppen, Büsche, dahinter Felder und einzelne kleine Häuschen schälen sich nach und nach aus dem Morgennebel. Es ist ein Moment voll andächtiger Stille, eine beindruckende Stelle im Roman »Die Chandos-Falle« von Anthony Price. Doch dieser Moment täuscht. Denn Jack Butler ist eigentlich Corporal Jack Butler, Angehöriger der britischen Armee. Es ist der Sommer des Jahres 1944 und Butler ist Teil einer Kommandoeinheit, die hinter die feindlichen Linien vordringen soll. Und die feindlichen Linien beginnen am südlichen Ufer der Loire. „Am Leben bleiben“ weiterlesen

Nur eine Lebenslüge?

Eva Ladipo: Wende

Trägt ein Buch den Titel »Wende« denkt man unwillkürlich an die Ereignisse im Jahr 1989, an den Zusammenbruch der DDR und die deutsche Wiedervereinigung. Dies spielt im Roman von Eva Ladipo auch durchaus eine wichtige Rolle, im Mittelpunkt steht allerdings ein ganz anderer Umbruch: Es geht um Ursachen und Folgen der Energiewende, um Gewinner und Verlierer, um Macht und Abhängigkeit und um Politik. Die Autorin verknüpft die Geschehnisse beider Wenden miteinander, bietet dem Leser einen spannenden Polit-Thriller und legt gleichzeitig den Finger auf eine der großen Lebenslügen unserer Industrienation. „Nur eine Lebenslüge?“ weiterlesen

Tosende Stille im Outback

Garry Disher: Bitter Wash Road

Wenn die Buchhändlerin in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens mir den Kriminalroman »Bitter Wash Road« von Garry Disher nicht empfohlen hätte, dann wäre mir ein stilistisch und dramaturgisch perfekt komponiertes Buch entgangen. So aber durfte ich mich mehrere Lese-Abende im australischen Outback herumtreiben, die flirrende Hitze spüren und den Staub auf der Zunge schmecken. Und dabei sein, wenn Constable Paul Hirschhausen in einem Fall ermittelt, bei dem er hineinsticht in ein Nest aus Korruption, Rassismus und mühsam unterdrückter Gewalt. „Tosende Stille im Outback“ weiterlesen

Im Niemandsland

Davide Longo: Der Fall Bramard

Espresso wird gerne getrunken in Davide Longos »Der Fall Bramard«. Er schmiert die Gespräche. Das heißt, eigentlich unterstützt er eher das gemeinsame Schweigen. Denn geschwiegen wird viel in diesem Buch. Besonders zwischen Corso Bramard und Cesare, zwei wortkargen Männern in einer wortkargen Gegend. Beide leben in einem Dorf am Rand der piemontesischen Alpen, der alte Cesare betreibt die einzige Bar weit und breit. Es geschieht nicht viel hier, etwas abseits vom Leben in der Ebene. »Der Gesamteindruck war der von einem Ort, wo das Leben Zwischenstopp gemacht hatte, um sich dann anderswohin zu wenden. Corso lebte seit fünfzehn Jahren hier«. Denn in Bramards Vergangenheit ist bereits viel zu viel geschehen. Wenn er nicht schweigt und grübelt, dann besteigt er die umliegenden Gipfel, ohne auf Gefahren durch Wetter oder Steinschlag zu achten. Was kann einem Mann noch passieren, der bereits alles verloren hat, was ihm im Leben wichtig war? „Im Niemandsland“ weiterlesen

Berliner Ermittlungen

Berlin-Noir-Krimis: Fünf Ermittler

Nur wenige Orte gibt es auf der Welt, an denen die Verwerfungen und Umbrüche der Geschichte so deutlich sehen waren und zu sehen sind wie in Berlin. Die Stadt stand das gesamte 20. Jahrhundert über im historischen Fokus, Brennpunkt und Symbol gleichermaßen. Die dramatischste Zeit dürfte ohne Zweifel die Epoche zwischen 1918 und 1945 gewesen sein; hier nahmen in Berlin Ereignisse ihren Anfang, die mit ihren Folgen unsere ganze Welt verändern sollten.

1918 strömte das geschlagene kaiserliche Heer nach vier Jahren Krieg zurück, es folgten eine Revolution und deren Niederschlagung mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen in den Berliner Straßen. Dann die Inflation mit ihren verheerenden Folgen, eine erste vorsichtige Konsolidierung der jungen deutschen Republik, das langsame Erstarken der radikalen Parteien von rechts und links. Schließlich versetzte die Weltwirtschaftskrise dem Experiment der ersten deutschen Demokratie den Todesstoß, Straßenschlachten zwischen Nazis und Kommunisten waren an der Tagesordnung, Reichstagsauflösungen, Neuwahlen, immer schneller wechselten die Regierungen bis zu jenem unseligen Moment, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Die Folgen sind bekannt.

Gleichzeitig war Berlin in den zwanziger Jahren eine der modernsten Städte der Welt, ein Zentrum der Kunst und Kultur, Treffpunkt der Avantgarde. Licht und Schatten nah beieinander – eine perfekte Atmosphäre für das Genre Kriminalliteratur und deshalb ist es kein Wunder, dass sich inzwischen einige Ermittler im Berlin der Zwanziger- und Dreißigerjahre tummeln. Mir gefällt das sehr gut, ich mag es, wenn historische Zusammenhänge gekonnt in Romanhandlungen eingebaut werden; besonders wenn es sich um so dramatische Zeiten handelt wie jene. Ein paar dieser Ermittler, deren Werdegang ich höchst gespannt verfolge, möchte ich hier vorstellen. „Berliner Ermittlungen“ weiterlesen

Ein Thriller als Augenöffner

Sebastian Fitzek: Noah

Vor einiger Zeit hatte ich das Buch »Zehn Milliarden« gelesen und hier vorgestellt. Es thematisiert die Überbevölkerung der Erde, die irreparable Umwelt- und Ressourcenzerstörung und den unaufhaltsamen Weg in den Kollaps unserer Welt. Nach etwas mehr als 200 Seiten gut aufbereiteter, aber erschreckender Daten zieht der Autor eine verstörende Bilanz: »Ich habe einen der nüchternsten und klügsten Forscher, die mir jemals begegnet sind, einem jungen Kerl aus meinem Labor, der sich weiß Gott in diesen Dingen auskennt, die folgende Frage gestellt: Wenn er angesichts der Situation, mit der wir derzeit konfrontiert sind, nur eine einzige Sache tun könnte, was wäre das? Was würde er tun? Wissen Sie was er geantwortet hat? ›Ich würde meinem Sohn beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht.‹«

Nicht zuletzt wegen dieses drastischen Schlusssatzes ist mir das Buch im Gedächtnis haften geblieben und deshalb bin ich sehr neugierig, wenn dieses Thema in einer Romanhandlung umgesetzt wird. So wie in »Noah« von Sebastian Fitzek. „Ein Thriller als Augenöffner“ weiterlesen

Diener zweier Herren

Sam Eastland: Die Inspektor-Pekkala-Romane

Inspektor Pekkala hat zwei Markenzeichen: Ein augenförmiges Abzeichen, ein Smaragd in einer Emaille-Einlage auf einer fingergroßen Goldscheibe, verdeckt unter dem Revers getragen und einen großkalibrigen Webley-Revolver. Beides erhielt er aus den Händen des russischen Zaren, denn Pekkala ist sein persönlicher Spezialermittler, unbestechlich, unaufhaltsam, gefürchtet, bewundert, gehasst. Unter dem Namen »Das Smaragdauge« ist er im gesamten Zarenreich bekannt, ein lebender Mythos. Doch als wir ihn kennenlernen ist davon außer diesem Mythos nichts übrig geblieben: Das Buch »Der rote Zar« von Sam Eastland ist der erste Inspektor-Pekkala-Roman und beginnt im Jahr 1929 in einem sibirischen Straflager. „Diener zweier Herren“ weiterlesen

Maigret als Gesamtkunstwerk

Maigrets Frankreich: Photos und Texte

Bereits vor einiger Zeit hatte ich hier beschrieben, wie ich Georges Simenons Kommissar Maigret für mich entdeckt habe. Inzwischen sind wieder ein paar Bände der Reihe in der Sammlung dazugekommen und jeder einzelne von ihnen ist ein kleines Buchjuwel. Alleine die sorgfältig ausgewählten Schwarzweiß-Photos auf dem Titelbild sind ein Hingucker – handelt es sich doch oft um die Werke bekannter Photographen der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre. So gehen Titelbild, Gestaltung und Inhalt eine perfekte Symbiose ein, wie so oft beim Diogenes Verlag.

Im Blog Analog-Lesen hatte Sebastian Kretzschmar einmal ein Loblied auf Diogenes veröffentlicht und dem Titel »Das gute Gefühl, ein Diogenes-Buch zu lesen« müsste ich hier eigentlich nichts mehr hinzufügen (leider ist der Blog nicht mehr online, daher gibt es keine Verlinkung).

Eigentlich. Denn jetzt halte ich ein wahres Schmuckstück in den Händen, das mich völlig begeistert. „Maigret als Gesamtkunstwerk“ weiterlesen

Dunkelheit, die aus Ritzen kriecht

Volker Kutscher: Maerzgefallene

Im letzten Drittel des Buches finden wir sie, die Schlüsselstelle in Volker Kutschers Kriminalroman »Märzgefallene« steht auf der Seite 487: »Es kam ihr vor, als sei Berlin voll von Leuten, die nur auf diese neue Regierung gewartet hatten und plötzlich aus ihren Löchern hervorkrochen und ihr wahres Gesicht zeigten. Als sei da die ganze Zeit, irgendwo tief unter der Stadt, ein dunkles Berlin gewesen, das nun durch alle Ritzen nach oben kroch, wie Abwasser, das ein zu hoher Grundwasserspiegel durch die Kanaldeckel auf die Straße drückt. Aber so war es natürlich nicht, es waren dieselben Menschen, die durch dieselben Berliner Straßen liefen. Die neue Regierung hatte ganz einfach nur ein besonderes Talent darin, bei jedem Menschen das Schlechteste nach außen zu kehren.« »Märzgefallene« ist der fünfte Band aus der Reihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath der Berliner Kriminalpolizei. Er spielt im Frühjahr 1933. „Dunkelheit, die aus Ritzen kriecht“ weiterlesen

Erst schießen, dann fragen

Bruce Holbert: Einsame Tiere

Den Wilden Westen betrachtet man gemeinhin als eine Epoche des 19. Jahrhunderts. Nach der Lektüre von Bruce Holberts »Einsame Tiere« weiß ich, dass dies nicht stimmt. Der Roman spielt zu Beginn der 1930er-Jahre im Okanogan County, einer abgelegenen Gegend nahe Kanada im US-Bundesstaat Washington. Auf den ersten Blick meint man, dass auch hier moderne Zeiten angebrochen sind, es gibt schließlich Elektrizität, Autos, Mähdrescher und Telefone. Aber es ist ein Grenzland. Und zwar gleich auf dreifache Weise. Die Grenze zwischen den USA und Kanada verläuft hier. Indianerreservation und Farmland der Weißen stoßen aneinander. Und die Vergangenheit des Wilden Westens grenzt an das 20. Jahrhundert. „Erst schießen, dann fragen“ weiterlesen

Die Brücke der Lügen

Joakim Zander: Der Schwimmer

Als der namenlos bleibende Agent endlich die Akte erhält, nach der er gesucht hat, wird sein Leben eine zweite entscheidende Wendung nehmen. Es ist im Dezember 2013 und die andere, die erste entscheidende Wendung liegt viele Jahre zurück. Er war damals, im Juli 1980, im Auftrag der CIA in Damaskus stationiert, hatte sich in eine schwedische Diplomatin verliebt und hielt ihr beider Kind in den Armen, als sie in seinem explodierenden Auto starb. Das Kind überlebte, aber er fühlte sich außerstande, für es zu sorgen, so dass seine Tochter Klara ohne irgendetwas über ihren Vater zu wissen bei ihren Großeltern auf einer schwedischen Schäreninsel aufwuchs.

Den CIA-Agenten hatten die Geschehnisse aus der Bahn geworfen, der weitere Verlauf seines Lebens bildet die Rahmenhandlung des Romans »Der Schwimmer« von Joakim Zander. „Die Brücke der Lügen“ weiterlesen

In Bewegung bleiben

Nic Pizzolatto: Galveston

»Du wirst geboren und vierzig Jahre später humpelst du aufgeschreckt von deinen Wehwehchen aus einer Bar. Niemand kennt dich. Du fährst über nachtschwarze Highways und erfindest ein Ziel, denn es kommt darauf an, in Bewegung zu bleiben. Deshalb steuerst du auf das Letzte zu, was du zu verlieren hast, ohne eine Ahnung, was du damit anfangen sollst.« Klingt ziemlich düster. Ist es auch. So wie es eben sein muss, denn Nic Pizzolatto hat mit »Galveston« einen ganz und gar großartigen Noir-Krimi geschrieben. „In Bewegung bleiben“ weiterlesen

Eine Legende der Leidenschaft

Robert Baur: Mord in Metropolis

Der Roman »Mord in Metropolis« von Robert Baur nimmt uns mit. Und zwar mitten hinein in die Entstehung eines Meisterwerks, eines Meilensteins der Filmgeschichte, einer Legende. Doch schon die Dreharbeiten an sich waren legendär, denn Metropolis war eines der wahnwitzigsten Filmprojekte aller Zeiten und der Regisseur Fritz Lang ein von äußerster Leidenschaft getriebener Perfektionist. In den beiden Jahren 1925 und 1926 wurden etwa 600 Kilometer Film belichtet, sekundenlange Szenen dutzendfach wiederholt, bis sie den Vorstellungen Langs entsprachen, tausende von Statisten beschäftigt, die in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit leicht zu engagieren waren, neueste Technik für aufwändige Trickaufnahmen eingesetzt oder erst dafür entwickelt. Mit enormen Aufwand wurden Kulissen gebaut, hauptsächlich in Potsdam, in den Studios Babelsberg, wo eigens für Metropolis das damals größte und modernste Filmatelier Europas entstand. Die Kosten explodierten, der Film wurde teurer und teurer, das Budget um ein vielfaches überschritten. „Eine Legende der Leidenschaft“ weiterlesen

Auf Mördersuche im Bombenhagel

Harald Gilbers: Germania

Ein Kommissar im Ruhestand wird mitten in Nacht zu einem Tatort gerufen, an dem die ermittelnden Behörden nicht weiterwissen. Irgendwie ein klassischer Beginn eines soliden Kriminalromans. Aber nicht so in diesem Buch, in »Germania« von Harald Gilbers. Denn der Kommissar ist nicht freiwillig außer Dienst. Er heißt Richard Oppenheimer und wurde wegen seiner jüdischen Herkunft suspendiert. Der Ermittler, der ihn abholen lässt, heißt Vogler und ist Hauptsturmführer der SS. Wir befinden uns in Berlin, im Frühling des Jahres 1944. „Auf Mördersuche im Bombenhagel“ weiterlesen