Abgebrochene Brücken

Kai Havaii: Rubicon

Eigentlich hätte ich den Namen Kai Havaii kennen müssen, denn ich bin in den Achtzigerjahren aufgewachsen und er war – oder vielmehr ist – der Sänger der Band »Extrabreit«. Aber die Musik der Neuen Deutschen Welle mochte ich noch nie und auch dreißig Jahre später wechsele ich auf Partys schnell den Raum, wenn die NDW-Nostalgierunde läuft. Wobei ich in Zeiten, wie wir sie momentan erleben,  gerne dazu auf dem Tisch tanzen würde, wenn Partys überhaupt wieder möglich wären.

Wie dem auch sei, jedenfalls hatte ich den Namen Kai Havaii noch nie gehört, als ich bei der Frankfurter Buchmesse 2019 am Blauen Sofa vorbeikam, dem Veranstaltungsformat des ZDF. Genau in diesem Moment war eine Krimirunde zu Gast, es saßen dort Simone Buchholz, Judith Ahrendt, Sebastian Fitzek und eben Kai Havaii. Ein lässiger Typ, der gerade von seinem Kriminalroman »Rubicon« erzählte, der kurz zuvor erschienen war. Und das auf eine Weise, die mich so neugierig machte, dass ich zwei Stunden später mit diesem Buch im Zug saß, auf dem Weg zurück nach Köln. Und mit zunehmender Begeisterung in die Geschichte von Carl Overbeck eintauchte. „Abgebrochene Brücken“ weiterlesen

Eine Ode an den Nebel

Steven Price: Die Frau in der Themse

Nebel. Ich liebe ihn. Nebeltage gehören zu meinen kostbarsten Erinnerungen. Als Kinder streiften wir durch den nebelverhangenen Wald, der fast direkt vor meinem Zuhause begann; kahle Äste, an denen die Tropfen hingen, reckten sich aus dem Dunst und dahinter verschwanden die dunklen Baumstämme in der Stille. Als Erwachsener lief ich durch Städte im Nebel; die gewohnte Umgebung war kaum wiederzuerkennen, Straßen endeten im Nichts, die Verkehrsgeräusche klangen gedämpft herüber. Immer war es das Gefühl, als wäre die Welt verschwunden, wäre geschrumpft auf die paar Meter, die man sie sehen konnte. Mystisch war das. Schön. Und immer auch ein bisschen schaurig. Solche Nebeltage sind wetterbedingt sehr selten, in den letzten Jahren habe ich sie kaum noch erlebt. Und das ist wohl mit ein Grund, warum mir der Roman »Die Frau in der Themse« von Steven Price so gut gefallen hat. Denn der Nebel spielt darin eine tragende Rolle und prägt die Atmosphäre. Und es ist auch nicht irgendein Nebel, sondern der von London. Dessen Ausläufer jetzt auch durch diese Buchvorstellung ziehen. „Eine Ode an den Nebel“ weiterlesen

Zwei Jäger

Niklas Natt och Dag: 1793

Gut recherchierte historische Kriminalromane lassen auf ihrem Weg weit zurück in die Vergangenheit Epochen auferstehen, die scheinbar längst verschwunden sind. Aber nur selten gelingt dies so vielschichtig wie in dem Roman »1793« von Niklas Natt och Dag, der uns mitnimmt nach Stockholm in das titelgebende Jahr. Und in eine Zeit der Umbrüche.

1793 also. 100 Jahre zuvor war Schweden noch eine der wichtigen europäischen Großmächte gewesen, ein Land, dem der Dreißigjährige Krieg große Territorialgewinne eingebracht hatte. Mit dem Scheitern der Feldzüge Karls XII. und dessem Tod im Jahr 1718 setzte der Niedergang ein und 1793 war Schweden ein Land der extremen Gegensätze, bitterste Armut existierte neben dem verschwenderischen Lebensstil der Reichen. Vier Jahre zuvor hatten genau diese Gegensätze in Frankreich zu einer Revolution geführt, und nur wenige Monate vor Beginn der Romanhandlung war der französische König guil­lo­ti­nie­rt worden – ein Ereignis, das in ganz Europa für Unruhe unter den Mächtigen sorgte. Es brodelte auf dem Kontinent und jahrhundertealte gesellschaftliche Strukturen bekammen erste Risse. „Zwei Jäger“ weiterlesen

Zeitlose Gier nach Macht

Jo Nesbø: Macbeth - Das Shakespeare Projekt

William Shakespeares Drama »Macbeth« dürfte eines der düstersten Stücke der Weltliteratur sein und es hat auch nach über vier Jahrhunderten nichts von seiner Faszination eingebüßt. Es ist die Geschichte des siegreichen Helden, der auf die dunkle Seite wechselt, zum machtbesessenen Tyrannen wird und im Irrsinn endet. An seiner Seite Lady Macbeth, Vertraute, Geliebte und tückische Verschwörerin in einer Person, vereint im blutig-bösen Triumph und im wahnhaften Scheitern.

Nun hat Jo Nesbø das Stück adaptiert und ins 20. Jahrhundert verlagert. Sein Roman »Macbeth« ist ein wilder, actiongeladener Ritt durch Shakespeares Stück mit Noir-Elementen vom Feinsten. Als gleichermaßen begeisterter Shakespeare- und Nesbø-Leser war ich natürlich sehr gespannt auf das Buch. „Zeitlose Gier nach Macht“ weiterlesen

Neue Ermittler, neue Zeitreisen

Alex Beer und Christof Weigold mit Auftaktbaenden neuer Krimireihen

Wenn historische Kriminalromane sauber recherchiert sind, wenn Sprache sowie Ambiente die geschilderte Zeit passend wiedergeben – dann kann es sehr reizvoll sein, mit ihrer Hilfe vergangene Epochen kennenzulernen. Was die Zwanziger- und Dreißigerjahre in Berlin betrifft, hat der Autor Volker Kutscher mit seiner Gereon-Rath-Reihe in den letzten Jahren Maßstäbe gesetzt. Umso gespannter bin ich jedesmal, wenn neue Krimireihen an den Start gehen, die in einem ähnlichen Zeitraum angesiedelt sind. In den letzten Monaten war das gleich zwei Mal der Fall; die Auftaktbände zweier neuer Reihen schicken die Leser in das Wien des Jahres 1919/1920 und in das Los Angeles des Jahres 1921. Um es gleich vorwegzunehmen: Beide haben mir sehr gut gefallen und versprechen viel Potential für die Folgebände. „Neue Ermittler, neue Zeitreisen“ weiterlesen

Ein finsterer Held

Jo Nesbo: Durst

Harry Hole ist zurück. Und wie. Denn Jo Nesbø schickt seinen Ermittler in »Durst« wieder auf Mörderjagd. Vor einiger Zeit hatte ich hier schon einmal geschrieben, wie sehr ich der Krimireihe rund um diesen Kommissar der Osloer Kripo verfallen bin und daran hat sich in den letzten Jahren, nach den letzten Fällen nichts geändert. So ist es kein Wunder, dass ich pünktlich zum Erscheinungstermin eine der Buchhandlungen meines Vertrauens besuchte und es auf dem Heimweg kaum erwarten konnte, mich mit den neuesten blutigen Verwicklungen zu beschäftigen. Zwei, drei Abende später klappte ich das Buch zu und war begeistert. Und jetzt versuche ich herauszubekommen, warum eigentlich. „Ein finsterer Held“ weiterlesen

56 Hope Road, Kingston

Marlon James: Eine kurze Geschichte von sieben Morden

Was weiß ich eigentlich über Jamaika? Oder vielmehr, was wusste ich über diese Insel, bevor ich den Roman »Eine kurze Geschichte von sieben Morden« von Marlon James gelesen habe? Nicht allzu viel, außer dass dort Bob Marley und Peter Tosh den Reggae erfunden hatten. In Verbindung mit dieser Musik stellte ich mir das Leben dort irgendwie entspannt vor. Weit gefehlt. Sehr weit.

Nichts wusste ich von der erschreckenden Gewalttätigkeit. Nichts von den Elendsvierteln in Kingston wie etwa Eight Lanes, Copenhagen City, Rema oder den riesigen Müllbergen in Garbage Lands. Nichts von den Gangs, die diese Viertel beherrschten. Nichts von dem alltäglichen Rassismus, einem Erbe der düsteren Kolonialzeit. Nichts von der brutalen Kriminalität, dem Drogenhandel, der korrupten Polizei, von der Verstrickung der Politik in zahlreiche Morde. Und nichts davon, dass in den siebziger Jahren die PNP – eine der beiden großen politischen Parteien –  eine Art sozialistisches Experiment gestartet hatte. Was auf der einen Seite sofort die CIA mit ihren Destabilisierungsexperten auf den Plan rief, da man kein zweites Kuba vor der Haustüre haben wollte. Und zum anderen Fidel Castro seine Unterstützer schickte. Die rivalisierenden Gangs wurden bewaffnet, Überfälle und Drive-by-Shootings waren an der Tagesordnung, das Land versank in Chaos und Gewalt, Menschenleben zählten nichts, alles war nur einen Schritt von einem Bürgerkrieg entfernt.

Legendär dann das erste Friedenskonzert am 5. Dezember 1976 in Kingston, das Smile Jamaica Peace Concert, in dem Bob Marley zur Versöhnung zwischen den Gangs und zwischen den Parteien aufrief. Ein angeschossener Bob Marley, denn zwei Tage zuvor kam er bei einem Anschlag nur knapp mit dem Leben davon; ein Schuss hatte seine Brust durchlöchert, als sieben Männer mit Pistolen und automatischen Waffen sein Anwesen in der 56 Hope Road stürmten.

Mitten hinein in die aufgeheizte und angespannte Atmosphäre dieser Zeit führt uns Marlon James‘ Roman. „56 Hope Road, Kingston“ weiterlesen

Auf Rattenjagd

Der Spruch von den Ratten, die das sinkende Schiff verlassen, hat sich selten in einer solchen Dimension bewahrheitet wie nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur im Jahr 1945. Unzählige Täter tauchten unter, vielen gelang es, das von ihnen zerstörte Europa zu verlassen und besonders in südamerikanischen oder arabischen Ländern Zuflucht zu finden. Hier siegte Politik über Gerechtigkeit: Anstatt so viele Nazis wie möglich an den verdienten Galgen zu bringen, duldeten die alliierten Geheimdienste den Mörder-Exodus, wenn sie ihn nicht gar unterstützten. Denn mit dem Triumph Sowjetrusslands und dessen Griff nach großen Teilen Osteuropas war eine neue Bedrohung der westlichen Welt am Horizont erschienen. Der Beginn des kalten Krieges zeichnete sich ab und flüchtende SS-Leute waren plötzlich potenzielle Verbündete im Kampf gegen den Bolschewismus. Natürlich nicht offiziell, aber es etablierten sich feste Fluchtrouten, etwa über die Alpen zu den italienischen Häfen. Mit tatkräftiger Unterstützung der katholischen Kirche und des italienischen Roten Kreuzes. Dies waren die sogenannen »Rattenlinien«.

Der gesamte Aspekt der Täterflucht aus Europa ist bisher nur wenig erforscht, bis heute liegen etliche Zusammenhänge im Dunkeln. Umso spannender ist daher, sich mit zwei Romanen dieser Zeit und diesem Thema zu nähern. Es sind dies »Rattenlinien« des Autors Martin von Arndt sowie »Der vierte Mann« von Stuart Neville. „Auf Rattenjagd“ weiterlesen

Regennasse Einsamkeit

Sven Heuchert: Dunkels Gesetz

Wenn die Menschen gehen, holt sich die Natur alles zurück. Häuser zerfallen, Straßen bekommen Risse, in denen das Unkraut sprießt, Büsche und Bäume überwuchern alles, Wege verschwinden, notdürftig erhalten die letzten Verbliebenen die Reste einer Infrastruktur am Leben, die eigentlich kaum jemand mehr braucht. Im Amtsdeutsch heißen solche Gegenden »strukturschwach«, für die Bewohner und für seltene Besucher wirken sie wie das Ende der Welt. Sven Heuchert schickt uns in seinem Roman »Dunkels Gesetz« in genau solch eine Gegend, irgendwo in die Täler an der deutsch-belgischen Grenze, dort wo die Eifel am verlassendsten ist. „Regennasse Einsamkeit“ weiterlesen

Graphic-Novel-Werkstattbericht

Arne Jysch und Volker Kutscher: Der nasse Fisch - Graphic Novel

Es ist noch nicht so lange her, seit ich Graphic Novels als Literatur- und Kunstform für mich entdeckt habe. Gleichzeitig bin ich begeisterter Leser der Krimireihe rund um den Ermittler Gereon Rath. Wenn dann der erste Band dieser Reihe – »Der nasse Fisch« – als Graphic Novel erscheint und wenn Zeichner und Romanautor gemeinsam das Werk im Kölner Literaturhaus vorstellen – dann ist ja klar, dass ich mir diesen Abend auf keinen Fall entgehen lassen konnte. Und jede Minute hat sich gelohnt; es war eine ungemein spannende Veranstaltung, die den zahlreich erschienenen Zuhörern und Zuschauern die Entstehung einer Graphic Novel auf eine beeindruckende Art näher gebracht hat. „Graphic-Novel-Werkstattbericht“ weiterlesen

»Unsere Demokratie muss die Fäuste oben halten«

Mit Volker Kutscher durch Köln-Klettenberg

Durch Köln-Klettenberg mit Volker Kutscher – ein Autorenspaziergang

Hier auf Kaffeehaussitzer habe ich mich schon mehrmals mit der Krimireihe rund um den Ermittler Gereon Rath beschäftigt. Die Reihe ist ein spannendes und faszinierendes Projekt, denn der Autor Volker Kutscher schafft es damit, die verhängnisvollsten Jahre in der deutschen Geschichte am Beispiel seiner Protagonisten zu erzählen. Gemeinsam mit Gereon Rath erleben wir das Ende der Weimarer Republik und den Weg in die Dunkelheit der Nazi-Diktatur. Und das alles verpackt als spannende Kriminalfälle mit akribisch recherchiertem historischen Hintergrund.

Im Herbst 2016 fragte mich Philipp Achilles vom Verlag Kiepenheuer & Witsch ob ich Interesse hätte, mich einmal mit Volker Kutscher zu treffen und aus dem Gespräch einen Beitrag zu verfassen. Klar, dass ich sofort zugesagt habe und herausgekommen ist dabei ein Text über das Schreiben, über Zeitgeschichte und den Bezug zum Heute, über Köln und Berlin. Und natürlich über Gereon Rath.  „»Unsere Demokratie muss die Fäuste oben halten«“ weiterlesen

Im Dunkeln

Andreas Pflüger: Endgueltig

Um gleich einmal mit der Tür in Haus zu fallen: »Endgültig« von Andreas Pflüger ist einer der besten deutschen Kriminalromane, den ich in den letzten Jahren gelesen habe. Punkt.

Wer es etwas ausführlicher mag: Es liegt nicht nur an dem spannenden und vor allem temporeichen Plot, dem man mit seiner gekonnten Verdichtung die jahrelange Erfahrung des Schriftstellers als Drehbuchautor anmerkt. Es ist vor allem die Protagonistin Jenny Aaron, Mitglied einer Eliteeinheit der Polizei,  die mich sehr beeindruckt hat. Andreas Pflüger hat mit ihr eine starke Figur geschaffen, hart im Nehmen und gleichzeitig am Rande der Verzweiflung stehend. Denn sie ist blind. Oder vielmehr, sie wird es bei einem fehlgeschlagenen Einsatz, mit dem der Roman beginnt. „Im Dunkeln“ weiterlesen

Zwischen allen Stühlen

Jakob Arjouni: Happy Birthday, Türke! Illustriert von Philip Waechter

Kemal Kayankaya ist Privatdetektiv in Frankfurt. Er ist Türke. Er ist Deutscher. Er ist erfolglos. Er trinkt gerne. Und sitzt mit seiner großen Klappe meist zwischen allen Stühlen. Der 2013 überraschend und viel zu früh verstorbene Autor Jakob Arjouni hat mit ihm eine Art deutsch-türkischen Philip Marlowe geschaffen, der unserer Gesellschaft einen Spiegel vorhält, in den wir nicht immer gerne sehen möchten. Und er hat mit der Kayankaya-Reihe Kriminalliteratur kreiert, die beiden Teilen dieses Wortes gerecht wird. Mit »Happy Birthday, Türke!« fing alles an. „Zwischen allen Stühlen“ weiterlesen

Ermittler mit Scheuklappen

Volker Kutscher: Lunapark - Gereon Raths sechster Fall

Es gibt wenig Bücher, in denen Zeitgeschichte so lebendig wird, wie in der Buchreihe um den Ermittler Gereon Rath. Ich mag diese Reihe sehr und habe mich bereits mehrmals auf Kaffeehaussitzer damit beschäftigt. Sie ist ein spannendes und faszinierendes Projekt, denn der Autor Volker Kutscher schafft es darin, die verhängnisvollsten Jahre in der deutschen Geschichte am Beispiel seiner Protagonisten zu erzählen. Gemeinsam mit Gereon Rath erleben wir das Ende der Weimarer Republik und den Weg in die Dunkelheit der Nazi-Diktatur. Und das alles verpackt als spannende Kriminalfälle mit akribisch recherchiertem historischen Hintergrund. Der Roman »Lunapark« spielt im Jahr 1934 und ist der sechste Band der Reihe; die Nationalsozialisten sind dabei ihre Macht weiter zu festigen, die SA terrorisiert die Bevölkerung, das Bürgertum – ursprünglich froh, der kommunistischen Gefahr Herr geworden zu sein – beginnt zu realisieren, auf was für eine Art Staat Deutschland unaufhaltsam zusteuert. „Ermittler mit Scheuklappen“ weiterlesen

Hass-Botschaft

Dennis Lehane: Ein letzter Drink

Normalerweise schreibe ich erst über Bücher, wenn ich sie auch zu Ende gelesen habe. In diesem Fall muss ich allerdings eine Ausnahme machen, denn bei der Lektüre von Dennis Lehanes »Ein letzter Drink« stolperte ich über eine Textstelle, die so perfekt zur derzeitigen Situation nach der US-Präsidentenwahl passt, dass ich sie hier direkt und umgehend zitieren möchte, denn ich finde, jeder sollte sie lesen. „Hass-Botschaft“ weiterlesen