Ungläubiges Staunen

Berlin Heartbeats

Es war auf der Leipziger Buchmesse 2015, als ich zum ersten Mal viele meiner Bloggerkollegen im echten Leben getroffen habe. Als Tobias Nazemi vom Blog buchrevier hörte, dass ich in Köln lebe, meinte er »Echt? Ich hätte dich eher in Berlin verortet.« Meine spontane Antwort: »Ich mich auch.« Und genau so ist ist es. Berlin ist die Stadtliebe meines Lebens – obwohl oder vielleicht gerade weil der Kontakt zu dieser Stadt über all die Jahrzehnte nie ein dauerhafter war. Aber die dort verbrachten Wochen und Monate während der Neunziger gehören zu meinen prägendsten Erinnerungen.

Deshalb konnte ich an dem Buch »Berlin Heartbeats« auf keinen Fall vorbeigehen. Darin sind Texte und Bilder versammelt, die Geschichten aus jenem Berlin der Neunzigerjahre erzählen; Geschichten aus einer Zeit des Umbruchs, als alles offen und möglich schien, als Berlin ein einziges großes Experimentierfeld der urbanen Moderne war. Eine Zeit, in der ich diese Stadt während unzähliger, teils mehrmonatiger Besuche kennen- und liebengelernt habe. Sich durch Berlin treiben zu lassen hatte für mich in dieser Zeit stets etwas Inspirierendes, etwas Belebendes, aber auch etwas vage Vertrautes – vielleicht sind es die Gene meiner Familie; meine Großmutter verbrachte die gesamten Zwanzigerjahre in dieser Stadt. Und auch wenn ich heute dort aus dem Zug steige, fühle ich mich auf eine unbestimmte Art und Weise zuhause.

Aber es soll ja eigentlich um das Buch gehen.

»Berlin Heartbeats« stellt Protagonisten aus dem Berlin jener Jahre vor, Akteure, Künstler, Macher. Sie alle waren genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort, konnten ihre Energie aus der Stimmung des Umbruchs schöpfen, die schier unbegrenzten Möglichkeiten nutzen, die entstehen, wenn die eine Epoche beendet ist, die andere aber noch nicht begonnen hat. Das waren Jahre, wie sie nicht oft in der Geschichte vorkommen.

Wir treffen etwa Judith Hermann, die als Westberlinerin plötzlich in einer doppelt so großen Stadt lebte und darüber schreibt, wie sie staunend ein vollkommen neues Umfeld entdeckte, »es hatte ganz viel mit Liebe zu tun, mit der poetischen Vorstellung von einer Stadt, die dir gehört.«

Oder Klaus Biesenbach, der schildert, wie es zur Gründung der Kunst-Werke kam und wie in Berlin-Mitte eine ganze Künstlergeneration wirkte, denn »zu Beginn der 90er war alles auf Anfang, und man sah sich gegenseitig dabei zu, wie man versuchte, eine Form zu finden, etwas aufzubauen und den Dingen eine Gestalt zu geben.«

Oder Flake, Rammstein-Keyboarder, dessen Leben als Musiker durch die wilden Berliner Jahre einen vollkommen anderen Verlauf nahm, als er es sich während seines Aufwachsens in Ost-Berlin hätte vorstellen können.

Oder Dimitri Hegemann, der beschreibt, wie es zur Entdeckung der einzigartigen Location kam, in der dann der Techno-Club Tresor weltweit bekannt wurde. Und überhaupt weiß er als einer der Hauptakteure viel über die Clubszene jener Zeit zu berichten.

Frank Castorf kommt zu Wort, ebenso Sasha Waltz, Olaf »OL« Schwarzbach oder Christiane Rösinger. Menschen, die durch ihre Kreativität, ihre Kunst, ihre Inspirationen das Berlin jener Zeit zu einem ganz besonderen Ort gemacht haben.

Dazwischen gibt es immer wieder Photostrecken, etwa Harald Hauswalds berühmte Dokumentation der Räumung besetzter Häuser in der Mainzer Straße, während der es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kam. Ben de Biel photographierte in Berliner Clubs, während die Bilder von Hendrik Rauch, Philipp von Recklinghausen oder Rolf Zöllner Szenen der Berliner Demonstrations- und Protestkultur zeigen.

Die Beiträge sind nicht unbedingt von literarischer Qualität, von Judith Hermanns Erinnerungen abgesehen. Es sind kantige Texte, sie wirken eher wie unredigierte Sprachprotokolle, nicht immer elegant formuliert. Dafür aber umso authentischer. Eines aber haben sie gemeinsam: Alle schwärmen von dem vielen Platz, der mit einem Mal zur Verfügung stand. Leerstehende Wohnungen, leere Fabrikhallen, Werkstätten, Brachflächen, niemanden, den es kümmerte, was damit geschah – unendliches Potential für kreatives Leben. Und alle, die in diesem Buch zu Wort kommen, schauen mit fast ungläubigen Staunen auf diese Zeit zurück. Eine Zeit, in der alles möglich war.

Oder, wie es Judith Hermann viel schöner formuliert:
»Fotografien aus dieser Zeit, aus den Berliner Jahren, auch Fotos von Freunden, sind einerseits schwer zu ertragen, weil das alles vergangen und vorüber ist, und andererseits sind sie so exotisch wie eine Schmetterlingssammlung: aufgespießte, fixierte, angehaltene Zeit. Schön, dass es das gibt – dass der Moment vorbei ist, aber auf dem Foto immer noch da ist, und dann denke ich mit Staunen: So war das, so ist das tatsächlich gewesen.«

Denn auch das langsame Verschwinden jener Zeit wird thematisiert, das Einsickern der Normalität, mit jedem sanierten Haus, jeder zugebauten Bombenlücke ein wenig mehr.

Beim Schreiben dieses Beitrags sind so viele Erinnerungen vor dem geistigen Auge vorbeigezogen, dass ich gemerkt habe, wie intensiv die damaligen Aufenthalte in Berlin für mich waren. Die Monate, Wochen und Tage in dieser grandios trostlos-melancholischen Stadt, die endlosen Spaziergänge durch graue, verwitterte Straßen, die vielen Stunden in Cafés und die langen Nächte. Vieles verklärt sich im nachhinein, und letztendlich ist die große Frage, ob dieses intensive Empfinden an der Stadt und einer Zeit im Umbruch lag. Oder ob es schlicht und ergreifend Erinnerungen an die Jahre sind, in denen wir jung waren und das Leben unendlich weit vor uns ausgebreitet da lag – eine Perspektive, die sich im Laufe der Zeit verändert, erst schleichend, dann immer schneller.

Und so wirken auch die Beiträge des Buches oft wie eine moderne Form der Sehnsucht nach der guten alten Zeit. Nach jener Zeit des Aufbruchs, jener Zeit der Freiheit. Vielleicht aber auch nur nach der unwiderruflich verschwundenen Zeit unserer Jugend.

Ein wunderbares Buch.

Schließen möchte ich diesen Text mit der schönsten Erinnerung, die ich selbst an die Zeit in dieser Stadt habe.

Es war im Februar 1998, ich wohnte in einer Seitenstraße der Schönhauser Allee und war an diesem Abend am Kollwitzplatz verabredet. Es schneite schon seit Stunden, als ich mich zu Fuß auf den Weg machte. Auf der Schönhauser Allee fährt die U-Bahnlinie U2 als Hochbahn und ich lief unter den Stahlträgern der Bahntrasse entlang; rechts und links von mir das Schneetreiben, die Hausfassaden nur vage erkennbar. Die Straße war mit einer dicken Schneeschicht überzogen, Autos fuhren keine. Es war völlig still, nirgendwo ein Mensch zu sehen, das lautlose Weiß schluckte alle Geräusche. Ich hatte das Gefühl, ganz alleine durch diese unglaubliche Stadt zu laufen. Alleine und vollkommen mit mir im Reinen. Die Zeit davor hatte ich mir viele Gedanken darüber gemacht, was das Leben wohl für mich bereithalten mag. Diese Grübelei war mit einem Mal wie weggefegt, als hätte sich der Schnee auch darüber gelegt. Alles schien möglich. Es war ein magischer Moment, wie man ihn nicht oft erlebt, euphorisch und melancholisch zugleich.

Selten habe ich mich lebendiger gefühlt. Und genau das verbinde ich mit Berlin, dieser wunderbar unfertigen Stadt.

Als Bonustrack gibt es hier noch ein paar meiner Berliner Photos aus den Jahren 1993 bis 1999, die ich für diesen Beitrag digitalisieren ließ. Die Bilder haben keine besonders gute Qualität, denn ich konnte mir damals nur eine einfache Kompaktkamera leisten, aber für mich sind sie »aufgespießte, fixierte, angehaltene Zeit«.

Buchinformation
Anke Fesel/Chris Keller (Hrsg.), Berlin Heartbeats
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-46768-8

Zum Buch gibt es einen eigenen Webauftritt.

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9 Antworten auf „Ungläubiges Staunen“

  1. Manchmal habe ich eine Sehnsucht nach Zeiten, die ich so noch gar nicht miterlebt habe – so auch bei diesem Beitrag. Die 90er waren das erste Jahrzehnt meines Lebens, aber trotzdem glaube ich, mich an eine Aufbruchsstimmung zu erinnern. 90er + Berlin klingt noch besser. Ich war oft in Berlin und habe die Stadt jedes Mal anders erlebt und ich denke, diese Vielseitigkeit ist genau, was Berlin ausmacht. Werde mir das Buch auf jeden Fall anschauen!

  2. Das Foto vom Potsdamer Platz ist sinnbildlich für diese Stadt ;)
    Danke für den schönen Beitrag, macht Lust auf das Buch und lässt mich selbst auch in Erinnerungen an unsere Hauptstadt schwelgen (auch wenn ich das Berlin der 90er nur als kleiner Stöppke erlebt habe).

  3. Tolle Fotos – Berlin verändert sich so rasend schnell. Ich lebe jetzt seit 12 Jahren in dieser Stadt, die eine ganz besondere Energie hat, vor allem im Sommer und ständig ändert sich etwas. Es gibt kaum mehr Brachen, die Subkultur verschwindet immer mehr, lässt sich aber hoffentlich nicht gänzlich unterkriegen … deshalb danke für die Fotos!! LG, Bri

  4. Tolle Bilder, wenn auch nur mit Kompaktkamera aufgenommen.
    Ich komme erst seit zehn Jahren regelmäßig nach Berlin und auch, wenn da immer was unfertig ist, ist es jetzt natürlich eine völlig andere Stadt. Ein ganz großer Fan bin ich nie geworden, auch wenn ich gerne da bin. Die Jahre, die das Buch beschreibt, hätte ich gerne erlebt.

    1. Vielen Dank. Ja, es waren unglaubliche Jahre. Ich habe ab 1997 in Leipzig studiert und bin oft zwischen diesen beiden Städten hin- und hergependelt.

  5. Oh, was für eine wunderbare Rezension, die neugierig auf das Buch macht und gespickt ist mit persönlichen Berlin-Erlebnissen. Auch die melancholischen Fotos gefallen mir, sie erzählen von Zeiten, die unwiderbringlich vorbei sind. Ich war früher nur vor der Wende ein paarmal in Berlin und dann erst wieder 2007 für ein paar Monate. In der Zwischenzeit war viel geschehen und die Aufbruchstimmung habe ich wohl verpasst. Trotzdem hat mich Berlin auch vor zehn Jahren noch ergriffen und beinahe wäre ich dort geblieben, weil ich mich so heimisch und frei gefühlt habe.

    1. Ja, es ist dieses Gefühl der Freiheit, welches Berlin in vielen Menschen auslöst. Vielleicht gerade dadurch, dass diese Stadt ständig im Werden ist und sich immer wieder verändert.

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