Ein Jahr am Abgrund

Benedict Wells: Spinner

»Spinner« ist ein früher Roman von Benedict Wells, den er jetzt, sieben Jahre nach Erscheinen, noch einmal überarbeitet hat. Das machte mich neugierig, denn es kommt selten vor, dass ein heutiger Autor ein Buch noch einmal in einer neuen Version veröffentlicht. Also habe ich es gekauft. Angefangen es zu lesen. Nicht mehr damit aufgehört, bis die letzte Seite umgeblättert war. Es hat mich umgehauen. Dabei ist die Handlung an sich schon beinahe banal: Ein junger Mann irrt durch Berlin auf der Suche nach dem Sinn in seinem Leben. Schon tausend Mal gelesen. Aber niemals so. Denn es waren unzählige Sätze und Gedanken in diesem Buch, die mich auf eine Reise zu einem anderen Ich aus einer längst vergangenen Zeit geschickt haben; eine Zeit, lange her, die ich schon beinahe vergessen hatte, die mich aber geprägt hat bis heute. Es wird also gleich mal wieder etwas persönlicher, nur zur Vorwarnung.

Das Buch: Irgendwann in den Neunzigern ist Jesper Lier zwanzig Jahre alt. Durch den Zivildienst hat es ihn von München nach Berlin verschlagen und hier lebt er nun, in einer lochartigen Wohnung im Tiefparterre irgendwo im damals grauen Prenzlauer Berg. Er ist ständig pleite, hält sich gerade so über Wasser, trinkt zu viel, schläft zu wenig und hat seine sozialen Kontakte auf das Nötigste reduziert. Und schreibt und schreibt und schreibt. Seit einem Jahr. Nicht irgendetwas, sondern einen Roman. Nicht irgendeinen Roman, sondern den Roman; ein episches Werk soll es werden, denn Jesper will Schriftsteller sein, er weiß, dass er das Talent dazu hat. Dabei ist er auf dem Weg nach unten, auch das weiß er insgeheim, verdrängt es aber stets, in einem Moment seltener Klarheit nennt er die vergangenen Monate »ein Jahr am Abgrund«. Ein junger Mensch auf der Sinnsuche, der vor einer großen Leere steht; ein Anblick, den er durch sein permanentes Schreiben an einem endlosen Text überdecken möchte.

Die Freundschaft zu Gustav von Wertheim ist sein letzter Kontakt zur Außenwelt. Gustav ist in allem das komplette Gegenteil, aus reicher Familie, gutaussehend, kommunikativ, lässig. Dann kommt Jespers alter Schulfreund Frank noch dazu, den es ebenfalls nach Berlin verschlägt. Zu dritt ziehen sie eine Woche durch die Stadt und danach werden sie alle nicht mehr dieselben sein wie zuvor.

Denn die Handlung des Romans umfasst genau sieben Tage. Eine Woche, in der Jespers Leben vollends aus den Fugen zu geraten droht; eine Woche, in der er sich verliebt, in der er scheitert, in der letzte Konstanten seines Leben wegbrechen werden. Aber auch eine Woche, in der sich alles ändern kann, nach der alles möglich sein könnte. Vielleicht.

Ziemlich am Anfang des Buches stehen die Worte: »Schon komisch. Vor ein paar Jahren hatte ich noch das Gefühl gehabt, durchs Leben zu gleiten oder zu schweben, aber das war vorbei. Alles, was einmal schien, war plötzlich fremd und schwierig. Als hätte ich das Schweben verlernt.« Jesper, der es sich nie einfach gemacht hatte in seinem Leben, der den Tod seines Vaters nicht verarbeitet hat, wurde durch seinen Zivildienst und die sich anschließende Zeit der Leere vollends aus der Bahn geworfen. Durch die Frage, was er aus seinem Leben machen soll, die nach einer Zeit, in der man auf einer Pflegestation ständig mit Leid, Schmerz und Tod konfrontiert wurde, ihm umso drängender erscheint.

Und an dieser Stelle hat mich das Buch vollkommen in sich hineingezogen, denn exakt so fühlte ich mich damals, als im Oktober 1990 mein Zivildienst endete. Auch ich hatte keinen Plan für mein Leben, suchte nach einem Sinn, betäubte ständig die sich darum kreisenden Gedanken, versuchte, den Tod meines Vaters zu verarbeiten. Doch anders als Jesper, der sich vollkommen in sein fanatisches Schreiben zurückzieht, suchte ich Ablenkung in ständigem Unterwegssein, im abendlichen Herumziehen, immer in Gesellschaft, immer auf dem Sprung, trank zu viel, schlief zu wenig. Ein Balanceakt, der auch anders hätte enden können, aber mit mir und den kreisenden Gedanken alleine habe ich es damals nicht ausgehalten. Es ist viel geschehen seitdem, aber durch Benedict Wells »Spinner« wurde diese Zeit wieder im Kopf lebendig und ich habe gemerkt, dass ich nichts davon vergessen habe. Diese Zeit der Suche nach einem Sinn im Leben; eine Suche die einen immer weiter von sich selbst wegführen kann, ohne dass man es merkt, »unseren Träumen hinterherjagend.« Jesper flüchtet sich in den Schutz seiner Einsamkeit, ich flüchtete in den Schutz der ständigen Geselligkeit. Beide auf der Flucht vor sich selbst.

Und immer die Angst, nicht das richtige, das wahre Leben zu finden. »Erst bist du jung und machst dir Pläne, und alles scheint möglich, und dreißig Jahre später wachst du auf und stellst fest, dass alles falsch ist. Und du kannst nichts mehr ändern, dabei hast du noch nicht mal große Fehler gemacht. Du hast nur hin und wieder kurz nicht aufgepasst, und schon ist alles vorbei, und es heißt: Das war dein Leben, hat eben nicht sollen sein, Pech gehabt.« Damals hat mir eine achtzigjährige Bewohnerin des Altenheims, in dem ich arbeitete, gesagt: »Wissen Sie, eben war ich noch jung, das ist doch gar nicht so lange her. Und plötzlich bin ich alt und ich weiß nicht, wo die Jahre geblieben sind.« Das war vor fast dreißig Jahren und beim Schreiben bekomme ich gerade eine Gänsehaut.

Ich sehe schon, dass wird sehr persönlich. Aber ich habe Euch ja gewarnt.

Ein Moment aus der Zeit damals: Es war direkt nach dem Zivildienst. Ich jobbte als Altenpflegehelfer, denn dass konnte ich jetzt ja, und wohnte bei einer Freundin zur Untermiete. Als ich nach dem Einzug das erste Mal in den Supermarkt nebenan zum Einkaufen ging, drehte sich plötzlich alles um mich. Nur ganz kurz, aber in diesem Moment, als ich zum allerersten Mal in meinem Leben für mich alleine etwas einkaufen musste, mich die Auswahl der Waren schier überforderte, ich das Gefühl hatte, mich wie ein Außenstehender selbst zu beobachten, da dachte ich, so, jetzt geht es also richtig los, dein Leben. Und nun? Was geschieht jetzt? Schaffst Du das? Das waren die Gedanken damals, und ich habe schon lange nicht mehr an diese Szene gedacht, aber durch Jesper Liers Geschichte war plötzlich alles wieder da. Und Benedict Wells beschreibt dessen Moment so: »Ich wachte mit einem Gefühl von kalter Angst auf. Sah mich in einem Studienfach, das ich hasste, in einem Büro, das mich einengte, in einem Beruf, der mich auffraß und mir egal war. Sah, wie ich mir abends ein Fertiggericht zubereitete und mich und meine gescheiterte Existenz verurteilte. Mir standen keine Türen offen, jetzt würde ich mich dem wirklichen Leben stellen müssen, und das wirkliche Leben schien eine Nummer zu groß für mich.« Als ich das gelesen hatte, sah ich mich wieder mit meinem Einkaufswagen und einem ratlosen Blick mitten in diesem Supermarkt stehen.

Der Beitrag wird viel zu lang. Aber kürzer kriege ich das nicht hin. Und geht es überhaupt noch um das Buch? Ich weiß es nicht genau. Und was wird aus Jesper? Eine Stelle möchte ich noch zitieren, diesmal vom Ende des Buches, aber keine Angst, sie verrät nichts von der Handlung. Auch diese Sätze haben mich bewegt, denn so anstrengend die Zeit damals auch gewesen sein mag, so intensiv war sie auch und ich möchte keinen Tag davon missen. Aber Jesper findet die besseren Worte dafür: »Und ich weiß noch genau, dass es mir in diesem Moment so vorkam, als hätte ich in dieser Woche Abschied genommen, nur wusste ich damals noch nicht, wovon. Heute ist es mir klar: von den überschwänglichen, großen Gefühlen, dem im einen Moment Verzweifelt- und im nächsten schon wieder Zuversichtlichsein und von dem Wissen, dass alles noch so unendlich weit vor einem liegt. Es ist der Fluch der Jugend, dass man glaubt, ständig zu leiden. Doch wenn diese Zeit vorbei ist, stellt man verwundert fest, dass man sie geliebt hat. Und dass sie nie mehr zurückkommt.«

Schon wieder Gänsehaut. Wie soll man diesen Beitrag nun beenden? Vielleicht so: Lieber Benedict Wells, vielen Dank für dieses Buch!

Buchinformation
Benedict Wells, Spinner
Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-24384-0 

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15 Antworten auf „Ein Jahr am Abgrund“

  1. Ich denke, ich muss dieses Buch auch lesen, allerdings waren meine Gedanken andere, als ich mich nach dem Tod meines Vaters mit meinem „Rest vom Leben“ konfrontiert sah. Meine Jugend war voller Zuversicht, dass ich eines Tages etwas Großes, Aufregendes tun würde – doch jetzt ,gefangen in einem 08/15-Job und einem, bis auf einige Ausnahmen, sehr öden Erwachsenenleben ist mir das wirklich Leben eine Nummer zu klein geworden…
    Vielleicht kann Wells mir einen wertvollen Gedanken schenken, der mich weiterbringt.
    Danke für eine hervorragende Rezension!

  2. ich danke dir für deine ausführliche (nein, ist nicht zu lang) beschreibung, auch für die persönlichen aspekte. so gehen die meinungen auseinander, auf mich hat das buch bei weitem nicht diesen eindruck hinterlassen, die „new edition“ (vllt gibt es ja bald noch ´ne sonderedition mit zwei extra kapiteln….) finde ich recht albern, ich habe es punktuell mal mit der erstausgabe verglichen. unerhebliche änderungen, die ich fand, aber wie gesagt, ich habe nur punktuell aus neugier nachgeschaut. insgesamt sind es ein paar seiten mehr geworden, soweit man das bei dem unterschiedlichen druckbild sagen kann.

    mal schauen, noch ne nacht drüber schlafen, morgen fasse ich mal meine eindrücke zusammen…

    herzliche grüße

    1. Vielen Dank für den Kommentar. Ja, es ist immer wieder interessant, wie unterschiedlich Bücher wahrgenommen werden. Ohne den persönlichen Aspekt hätte ich es sicherlich auch anders gelesen. Bin gespannt auf Deine Eindrücke.

      Beste Grüße
      Uwe

  3. Hallo Uwe,

    über Deine (ich hoffe, das „Du“ unbekannterweise ist in Ordnung?) Buchbesprechung bin ich auf diesen Roman von Wells aufmerksam geworden – der dritte Wells für mich, denn „Becks letzter Sommer“ (für dessen Lektüre ebenfalls eine Besprechung von Dir verantwortlich ist) hat mir außerordentlich gut gefallen, und auch „Vom Ende der Einsamkeit“ ist ein ansprechender Roman.

    Mit „Spinner“ musste ich erst warm werden. Das hat auch eine Weile gedauert. Ohne Frage: auch hier findet sich der unaufgeregte, ehrliche und immer wieder hintergründig humorvolle Schreibstil Wells, den ich sehr mag. Daher habe ich den Roman gern gelesen. Ich glaube, was ein Buch aber auch zu einem „Im-inneren-Kern-Erschütterer“ macht, ist es, wenn es persönliche Erfahrungen, Gefühle und Empfindungen zum Ausdruck bringt, in Worte fasst, die man selbst noch nicht gefunden hat. Du beschreibst es in Deiner Besprechung ja sehr gut, fühltest Dich an eigene biografische Erfahrungen erinnert. Und genau dies fehlt mir. Nicht, dass ich nicht durchaus auch kenne, was in „Spinner“ beschrieben wird. (Angst vor dem) Scheitern, Orientierungslosigkeit, Unsicherheit und Einsamkeit sind keine unbekannten Komponenten in meinem Leben. Was mir fehlt, ist die komprimierte Erfahrung all dessen in diesem „Spalt“ zwischen Jugendlich-sein und Erwachsen-werden. Auch die Verbindung mit der Erfahrung, um einen wichtigen Menschen zu trauern (oder in dieser Trauer „stecken zu bleiben“), fehlt mir bisher. Für mich war die Zeit, als ich zum Studieren weggezogen bin, eine außerordentlich glückliche; ich habe sie als „große Freiheit“ erfahren.
    Und hier fehlte mir eben die Verbindung zum Protagonisten. Hier habe ich die Geschichte als Außenstehende gelesen. Und bei aller Empathie ist mir der Protagonist dabei ein Stück weit fremd geblieben. Das änderte sich interessanterweise zum Ende hin. Die letzten fünfzig Seiten habe ich deswegen mit echter Bewegtheit gelesen.

    Ein tolles Buch, auch für mich! Und ich schließe mich gerne an: Deine Rezension ist keineswegs zu lang, da sie schlüssig geschrieben und gut „unterfüttert“ ist. Daher: Danke für den Tipp!

    1. Hallo Andrea,
      vielen herzlichen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Es freut mich sehr, dass ich Dir mit meinem Blogbeiträgen Bücher empfehlen konnte, die Deinen Lesenerv trafen.
      Beste Grüße
      Uwe

  4. Ich kann mich den Vorkommentatoren nur anschließen: gar nicht zu lang und eine wunderbare Rezension, die genau das zeigt, weshalb wir guten Lesestoff benötigen. Danke dafür. Ich habe Benedict Wells neuesten Roman erst vor kurzem gelesen und er hat mich ebenso umgehauen. Kaum zu glauben, was für eine Lebenserfahrung in diesen Büchern, die ein noch so junger Mensch geschrieben hat, steckt. Nun bleibt mir nichts anderes übrig, ich muss Spinner lesen. Außergewöhnlich, dass man sich als Autor mit einem abgeschlossenen Werk noch einmal so intensiv befassen kann und mag.

  5. Ein faszinierendes Buch. Scheint ein Buch für mich zu sein. Die Zitate haben mich sofort angesprochen. Durch deine eigenen Erfahrungen, wird die Rezension noch zusätzlich bereichert. Danke dafür.

    „Vor ein paar Jahren hatte ich noch das Gefühl gehabt, durchs Leben zu gleiten oder zu schweben, aber das war vorbei. Alles, was einmal schien, war plötzlich fremd und schweirig. Als hätte ich das Schweben verlernt“

    Ich glaube, dass ich allein für diesen Satz das Buch lesen muss.

    Viele Grüße, Anja

  6. Lieber Uwe, vielen Dank für diesen schönen, gar nicht zu langen Beitrag. Wer wissen will, wie Literatur wirken kann, muss deinen Beitrag lesen. Und wer eine Ahnung bekommen will, in welcher Weise Literaturblogs eine solche Wirkung vermitteln können, die über die Grenzen der Möglichkeiten der Feuilletonrezension hinausreichen, der erst recht.

  7. Ach, lieber Herr Uwe, und nun sitzen Sie in geordneten Verhältnissen, können in aller Ruhe gute Bücher lesen und hier, zum meinem großen Glück, besprechen!
    Es klingt heftig, was in Jespers und Ihrer Jugend geschah! Es hat zu einer Entwicklung von feinem Menschsein geführt!
    Besten Dank und Gruß von Sonja

    1. Ja, liebe Frau Sonja, irgendwie war das eine schräge Zeit. Aber umso mehr weiß man irgendwann die „geordneten Verhältnisse“ zu schätzen – wohl wissend, dass sie nicht selbstverständlich sind und dass vieles sich auch jederzeit ändern kann.
      Herzliche Grüße, Uwe

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