Niemand kann sich heraushalten

Antonio Tabucchi: Erklärt Pereira

Lissabon ist eine wunderschöne Stadt. Das erste Mal dort war ich 1988 während einer Interrailtour durch Südeuropa, auf dem Weg nach Marokko. Es ist schon lange her, aber ich kann mich noch gut an die Ankunft erinnern: Nach einer durchwachten Nacht im Gang eines überfüllten Zuges saßen wir früh am Morgen völlig übermüdet in einem Straßencafé am Praça Dom Pedro IV, tranken einen starken Kaffee und ließen den Trubel einer erwachenden Großstadt auf uns wirken.

Überall Menschen, Menschen, Menschen; auf dem Weg zur Arbeit, Einkäufe erledigend, zeitungslesend einen Morgenkaffee zu sich nehmend. Der Himmel war grau, auch die Fassaden wirkten grau und ein wenig heruntergekommen, aber ich war überwältigt. Große Plätze, hohe Häuser mit Leuchtreklamen auf den Dächern und dazu der morbide Charme des Verfalls. Man darf dabei nicht vergessen, dies war alles lange vor einem EU-Europa wie wir es heute kennen. Alles wirkte fremd für mich. Erst vierzehn Jahre zuvor hatte das portugiesische Volk mit der »Nelkenrevolution« das Militärregime vertrieben, das seit 1926 in Portugal geherrscht hatte.

Genau um die Zeit dieser portugiesischen Militärdiktatur geht es in dem Buch »Erklärt Pereira« von Antonio Tabucchi. Wir befinden uns im Jahr 1938. Pereira, die titelgebende Figur der Geschichte, ist ein Mann Ende fünfzig, der sich in seiner Einsamkeit eingerichtet hat und mitten in Lissabon in seiner eigenen Welt lebt. Er ist Kulturredakteur einer unwichtigen Zeitung, schreibt darin Artikel, die niemanden interessieren und trauert um seine seit einigen Jahren verstorbene Frau. Mit deren Bild führt er die meisten Gespräche im Laufe des Tages, Freunde und Bekannte hat er so gut wie keine.

Um ihn herum herrscht eine Diktatur mit eiserner Hand, unterdrückt die Geheimpolizei Salazars jegliche freie Meinungsäußerung und verfolgt Andersdenkende unbarmherzig. Pereira interessiert das alles nicht, er weigert sich, die Wirklichkeit in sein Leben eindringen zu lassen. Durch Zufall lernt er einen jungen Mann und dessen Freundin kennen. Nach und nach stellt sich heraus, dass sie im Untergrund tätig sind. In der Wohnung Pereiras wird der junge Mann vom Geheimdienst gestellt und …

Wenn ich jetzt weiter erzähle, dann verrate ich zuviel von der Geschichte. Pereira jedenfalls wird durch das Erlebte aus seiner Lethargie gerissen. Und handelt.

Darum geht es in diesem Buch. Die Wirklichkeit, das echte Leben lässt sich nicht einfach ausblenden. Niemand kann sich heraushalten und jeder muss eines Tages entscheiden, wo er steht. Welche Konsequenzen das für Pereira hatte, erfährt man nicht. Das Buch ist in einer Art Protokollstil geschrieben, jedes Kapitel beginnt mit »Pereira erklärt…« und endet mit »…erklärt Pereira«. Ein Vorname wird nicht mitgeteilt, auch wer das Protokoll erstellt hat, bleibt offen. Was ist aus ihm geworden? Konnte er rechtzeitig das Land verlassen? Wir hoffen es für ihn. Denn wir leben heute in einem Land, in dem es mit keinerlei Risiko verbunden ist, eine Meinung zu äußern. Das war nicht immer so, es ist an vielen Orten der Welt auch heute nicht so, es ist nicht selbstverständlich. Daran sollten wir immer denken. Und dieses Buch lesen. Es ist für mich eines der wichtigsten Werke zum Thema Zivilcourage, das ich kenne.

Buchinformation
Antonio Tabucchi, Erklärt Pereira
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

DTV
ISBN 978-3-423-12424-5

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7 Antworten auf „Niemand kann sich heraushalten“

  1. Lieber Uwe,
    wie schon oft habe ich auch bei diesem Buch deiner Empfehlung vertraut und war beeindruckt. Zwar empfand ich den Text – obwohl schlicht gehalten – etwas anstrengend zu lesen, wohl wegen der Berichtform… Dafür wurde ich aber entschädigt, denn ich kann dir nur beipflichten: ein Impulsgeber für Zivilcourage, ich konnte sehr gut mit Pereira fühlen und nehme eine Menge mit aus der Lektüre.
    Herzlichen Dank für den Tipp und liebe Grüße,
    Katrin

  2. Lieber Kaffeehaussitzer,

    eine sehr treffende Rezension zu einem meiner Lieblingshörbücher, wundervoll ausdrucksstark und eigenbrötlerisch gelesen von einem älteren Herrn, dessen Namen mir nicht einfallen will.
    Um auf andere User einzugehen: Den „Nachtzug“ habe ich persönlich allerdings kaum ertragen und nach 80 Seiten aufgehört(sehr konstruiert und pseudointellektuell).
    Danke für diese sehr schöne und liebevolle Site von einem Büchernarr für Gleichgesinnte!
    Grüße aus dem Nordosten Deutschlands

    1. Gerne. Es ist eines meiner Lieblingsbücher, obwohl stilistisch eher spröde. Aber vielleicht genau deswegen, weil einfach alles so gut zusammenpasst: Stil, Inhalt, Aussage.

  3. „Erklärt Pereira“ steht als nächstes Buch auf meiner Liste. Nachdem ich, eher zufällig, die Verfilmung von „Nachtzug nach Lissabon“ gesehen habe, ging mir auf, dass ich über jene Zeit in Portugal absolut gar nichts weiß und sich das schnellstmöglich ändern müsse. Ich denke, „Erklärt Pereira“ ist ein guter Anfang dafür. Kennst du noch weitere empfehlenswerte Romane und/oder Sachbücher, die sich mit (dem sog.) Klerikalfaschismus oder dieser Zeit in Portugal im Speziellen beschäftigen?

    1. Ja, “Erklärt Perreira” bietet einen ziemlich guten Einblick in diese Zeit. Ansonsten habe ich zu diesem Thema außer “Nachtzug nach Lissabon” nichts gelesen. Ich denke, dass man im Werk des portugiesischen Schriftstellers António Lobo Antunes etwas finden könnte, kenne seine Bücher allerdings nicht näher.

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