Alternativlose Politik 1914

Christopher Clark: Die Schlafwandler

722 Seiten über Politik und Diplomatie in einem Buch, an dem der Autor fünf Jahre gearbeitet hat, das frischen Wind in die seit Jahrzehnten andauernde Debatte über die Ursachen des Ersten Weltkriegs bringt und das Zeug hat, zu einem neuen Standardwerk der Geschichtsforschung zu avancieren. Wie soll man solch ein Werk in einem kurzen Blogbeitrag beschreiben? Genau, es geht um »Die Schlafwandler« von Christopher Clark.

Das Buch beginnt mit einem Königsmord: 1903 wurde der serbische König bei einem Staatsstreich erstochen und zerstückelt, Europas Öffentlichkeit war entsetzt. Die Nachfolgeregierungen herrschten über ein instabiles Land, die eine Klammer, die alles zusammenhielt, war der Gedanke an ein zukünftiges großserbisches Reich. Deshalb war die nationalistische Fraktion staatstragend im Königreich Serbien, die Terrororganisation »Schwarze Hand«, 1914 für das Attentat in Sarajewo verantwortlich, hatte Verbindungen und Unterstützung bis weit in serbische Regierungkreise hinein. Viele Serben lebten nicht in den Landesgrenzen, ein einheitliches serbisches Reich war daher nur auf Kosten der Nachbarländer möglich. Ein Pulverfass also. So wie die gesamte Region. Denn nach den beiden Balkankriegen 1912 und 1913, in denen Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland erst die Dominanz des Osmanischen Reiches brachen und sich dann wegen der Kriegsbeute untereinander bekämpften, begann der Erste Weltkrieg eigentlich als dritter Balkankrieg.

Wie konnte es so weit kommen, dass ein begrenzter Konflikt den ganzen Kontinent erfasste, Millionen von Toten forderte, Gesellschaftssysteme auslöschte und gleich die Saat für den nächsten, noch schlimmeren Krieg, legte? Seit den 60er Jahren gibt es die These von der deutschen Kriegsschuld, die Theorie eines von langer Hand durch Deutschland vorbereiteten Krieges. Doch die historische Wahrheit dürfte weitaus vielschichtiger sein als dieses simple Schwarzweißdenken und Clark legt diese Schichten in seinem Buch frei. Akribisch, Punkt für Punkt. Nicht die dogmatische Frage nach der Kriegsschuld steht im Mittelpunkt des Werkes, sondern die mühsame Suche nach den Kriegsursachen. Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Denn: »Mögliche Kriegsursachen, die man sich aus den Jahrzehnten der europäischen Vorkriegszeit herauspickt, werden wie Gewichte auf die Waagschale gelegt, bis sie sich von der Wahrscheinlichkeit zur Unvermeidlichkeit neigt. Eventualitäten, Wahlmöglichkeiten und Urheberschaft werden aus dem Sichtfeld einfach ausgeklammert. Das ist unter anderem ein Problem der Perspektive.«

Diese Perspektive rückt Christopher Clark zurecht. Er hat für dieses Buch unzählige neue Quellen durchforstet und erschlossen, Sitzungsprotokolle, Tagebucheinträge, Briefwechsel, Zeitungsmeldungen, Anmerkungen auf offiziellen Schriftstücken, privat notierte Erinnerungen und vieles mehr. Herausgekommen ist ein faszinierendes Porträt einer Epoche und ihrer maßgeblichen Akteure.

Die Situation Österreich-Ungarns und sein Verhältnis zum Nachbarstaat Serbien ist einer der zentralen Aspekte des Buches. Nach den beiden Balkankriegen hatte Österreich das Vertrauen in die Diplomatie verloren und nahm Serbien als einen unberechenbaren, unzuverlässigen und provokanten Nachbarn wahr, dem gegenüber nur eine Politik der Härte angemessen schien. Gleichzeitig wurde Österreich-Ungarn von Russland, Frankreich, England und natürlich Serbien als ein anachronistisches Staatengebilde betrachtet, dessen Tage gezählt waren und aus dessen Niedergang eine neue Ordnung auf dem Balkan aufzubauen wäre. Serbien hoffte dabei auf die Vormachtstellung in dieser Region und wurde dabei im Sinne der panslawistischen Ideologie von Russland unterstützt, das dabei allerdings eigene Interessen verfolgte. Denn der alte Traum der russischen Beherrschung des Bosporus, dieser entscheidenden Meerenge, war nie ausgeträumt.

Russland wiederum wurde in seiner Politik von Frankreich bestärkt, dass sich seines Bündnisses mit England nicht hundertprozentig sicher war, und sich darum immer enger mit dem Zarenreich zusammenschloss. Durch die Unterstützung serbischer Interessen ging Russland auf Konfrontationskurs mit Österreich-Ungarn, welches sich aber der deutschen Rückendeckung sicher sein konnte. Das deutsche Reich setzte dabei auf eine säbelrasselnde Politik der Stärke, nicht gerade geeignet, um das feindselige Misstrauen seiner Nachbarn abzubauen. Insgesamt eine Pattsituation, ein festgefahrenes System, dabei gleichzeitig äußerst fragil . Das System musste von außen gezündet werden, die russische Unterstützung Serbiens, von Frankreich forciert, ließ die Situation im Sommer 1914 hochkochen, die versteckt begonnene Mobilmachung Russlands und der »Blankoscheck« Deutschlands für das österreichische Vorgehen ließen sie vollends eskalieren.

Und England? England dachte nie europäisch, sondern immer global. Für das europäische Bündnissystem war das Verhältnis zwischen England und Russland von großer Bedeutung, die sich im zentralasiatischen Raum misstrauisch gegenüberstanden. Letztendlich war es für England geopolitisch sinnvoller, sich mit Frankreich und Russland zu verbünden, als sich Deutschland anzunähern, da somit Russland zum Bündnispartner und dadurch die gefühlte Bedrohung Indiens eingedämmt wurde. Zudem stand der langjährige Außenminister, Sir Edward Grey, dem Deutschen Reich mehr als kritisch gegenüber und schaffte es, etliche entscheidende Posten im Kabinett mit Gleichgesinnten zu besetzen.

Und damit kommen wir zur persönlichen Ebene: Ein weiterer zentraler Punkt des Buches sind die zahllosen persönlichen Beziehungen zwischen den Politikern aller Couleur. Zwischen Kaisern, Königen und Präsidenten, zwischen Ministern, Diplomaten und Botschaftern. Zwischen Politikern und Militärs, zwischen Tauben und Falken. Oftmals waren diese Beziehungen geprägt von starken Antipathien, von Misstrauen und missverständlicher Kommunikation. Dazu kamen äußerst unklare hierarchische Entscheidungsketten in allen Ländern, egal ob Republik oder Monarchie; manche Botschafter oder Minister machten ihre eigene Politik am Kabinett vorbei, in Ländern wie Deutschland oder Russland brachte gerne das Veto oder eine plötzliche Richtungsänderung durch die Monarchen die diplomatischen Beziehungen durcheinander – kurz: Ein völliges Kommunikationschaos, das Clark äußerst detailliert zu entschlüsseln versteht.

Eines eint alle Verantwortlichen dieser Zeit: Die Möglichkeit eines Krieges sahen sie als ein natürliches Merkmal der Politik an. Die Pläne dafür waren überall vorbereitet, der richtige Zeitpunkt zählte. Und alle hatten Angst, diesen richtigen Zeitpunkt zu verpassen. 1914 war der Krieg nicht unvermeidbar, die Spirale der Eskalation, die sich erst langsam, dann immer schneller drehte, wäre noch bis zum Schluss zu stoppen gewesen. Es war nur keiner da, der sie gestoppt hat. Dabei wussten alle beteiligten Akteure, dass ein europäischer Krieg droht, wenn die Bündnisverpflichtungen greifen, wenn die Blankoschecks Deutschlands, aber auch Russlands und Frankreichs eingelöst würden. Heute haben wir für eine solche Entwicklung ein Wort, das in den letzten Jahren Einzug in unsere politische Kultur gehalten hat: Alternativlos. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde die Möglichkeit eines Krieges als genauso angesehen. Ein Wort mit einer fatalen Bedeutung.

Und wer hat nun Schuld? Das Buch ist der Versuch, die damaligen Ereignisse objektiv in ihrem Ablauf darzustellen. Erst im Nachwort schreibt Clark: »Die gegenseitigen Schuldzuweisungen haben niemals ihre Anziehungskraft verloren. … Eine Darstellung, die sich in erster Linie mit der Schuldfrage befasst, ist nicht deswegen problematisch, weil sie am Ende eventuell der falschen Partei die Schuld gibt, sondern weil ein schuldorientiertes Untersuchungsmodell oft mit Vorurteilen einhergeht. … Ferner hat dieser anklägerische Ansatz den Nachteil, dass das Blickfeld eingeengt wird, indem man sich auf das politische Temperament und die Initiativen eines bestimmten Staates konzentriert, statt auf einen multilateralen Prozess der wechselseitigen Beeinflussung. Dann stellt sich das Problem, dass die Ermittler bei der Schuldsuche dazu neigen, die Aktionen der Entscheidungsträger als geplant und von einer  kohärenten Absicht getrieben zu konstruieren. … Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. Aber sie war darüber hinaus  multipolar und wahrhaft interaktiv – genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne, und eben deshalb geht die Diskussion um den Ursprung des Ersten Weltkriegs weiter, selbst ein Jahrhundert nach den tödlichen Schüssen Gavrilo Princips an der Franz-Joseph-Straße.«

Ich habe vier Monate gebraucht, dieses brillant geschriebene Buch zu lesen. Als ich damit begann, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass gegen Ende der Lektüre wieder von russischer Mobilmachung und der Annexion eines Landstrichs des souveränen Nachbarlands in den Zeitungen zu lesen ist.

Mobilmachung. Ein Wort, das auf irritierende Weise so wirkt, als wäre es aus der Zeit gefallen. Aber es ist immer noch da.

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.

Buchinformation
Christopher Clark, Die Schlafwandler
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz
Deutsche Verlags-Anstalt
ISBN 978-3-421-04359-0

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8 Antworten auf „Alternativlose Politik 1914“

  1. Ich habe leider erst 41% der englischen Ausgabe gelesen, bin aber schon sehr von dem Buch eingenommen. Gestern habe ich mit „dem Münkler“ begonnen, der sich auf den ersten 50 Seiten intensiv mit Clark auseinandersetzt.
    Deine Besprechung finde ich sehr gut – wenn ich nicht schon darin läse, würde ich nun mit den „Schlafwandlern“ anfangen!

    1. Danke, das freut mich sehr! Am Münkler bin ich auch gerade dran. Nach den ersten 150 Seiten dachte ich, es würde sich auf eine rein militärgeschichtliche Darstellung beschränken, aber dem ist nicht so. Es geht dann ziemlich in die Tiefen der zeitgenössischen Ideologien, allerdings sehr auf Deutschland bezogen; ich hätte mehr mit einem europäischen Ansatz gerechnet. Aber das Buch liest sich gut, angenehm unaufgeregt.

  2. Immerhin gewährst Du denjenigen, die sich nicht selbst an dieses dicke Werk wagen, einen kleinen, erhellenden Einblick in die Zusammenhänge, die zur Katastrophe führten. Und, wie Du auch schreibst, die Bezüge zur aktuellen Lage sind wirklich erschreckend – und sicherlich von ebesolcher Komplexität wie vor 100 Jahren. Wir wollen hoffen, dass alle Vernunft und Nerven bewahren und nicht soviel herumplaudern wie die Verteidigungsministein am Wochenende.
    Viele Grüße, Claudia

    1. Aber es ist wirklich nur ein kleiner Einblick. Das Buch beleuchtet so viele Aspekte und Zusammenhänge, dass man nur einen winzigen Bruchteil davon in einem Blogbeitrag wiedergeben kann. Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber man hat schon manchmal das Gefühl, dass niemand aus ihr wirklich etwas lernt. In Sarajewo wird übrigens zur Zeit ein Denkmal für den Attentäter Gavrilo Princip geplant: http://bit.ly/1lmh7so

    1. Ja, man braucht seine Zeit für das Buch. Die unzähligen Namen, Titel und Funktionen sind nichts für eine abendliche Entspannungslektüre. Aber es lohnt sich, Seite für Seite.

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