Abgetaucht im Literaturmeer

Deutscher Buchpreis: Abgetaucht im Literaturmeer

Momentan herrscht etwas Ruhe hier auf Kaffeehaussitzer. Der Grund dafür ist auf dem Beitragsphoto zu sehen: Ein ganzer Berg leerer Kartons. Kartons, die mit Büchern gefüllt waren. Bücher, mit denen ich mich beschäftigen darf. Denn in diesem Jahr habe ich die große Ehre und das große Vergnügen, Jurymitglied des Deutschen Buchpreises zu sein. Und damit ist jede, wirklich jede freie Minute mit Lesen ausgefüllt. Im Februar hatte ich schon angekündigt, dass sich daher ab April die Beiträge im Blog etwas rar machen könnten – damals wusste ich noch nicht, was da wirklich auf mich zukommen würde.

Als letzten Herbst die Anfrage für die Jurytätigkeit in den Briefkasten flatterte, überlegte ich natürlich nicht lange und sagte sofort zu. Ende März 2018 war dann die Einreichungfrist für die Verlage beendet und die Jury traf sich zur konstituierenden Sitzung. Christoph Bartmann, Luzia Braun, Tanja Graf, Paul Jandl, Christine Lötscher, Marianne Sax und ich saßen im Berliner Büro des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zusammen; als erstes sichteten wir die 165 für den Deutschen Buchpreis eingereichten Titel. Aus der darüber hinaus vorhandenen Empfehlungsliste (jeder Verlag darf zwei Bücher einreichen und bis zu fünf weitere Titel empfehlen) wählten wir zahlreiche weitere Romane aus, die unserer Meinung nach auf jeden Fall berücksichtigt werden mussten und stimmten uns über den Ablauf der Juryarbeit ab. Christine Lötscher wurde zur Jurysprecherin gewählt.

Eine Woche später kam das erste Buchpaket an. Dann begann das große Lesen. Und die Buchstapel wuchsen.

Lesen vor dem Frühstück, lesen in der Mittagspause, lesen am Abend, lesen in der Nacht. Extra früher aufstehen, um mehr Lesezeit zu haben. Die Tram nehmen statt des Fahrrads, um lesen zu können. Lesen im Café (natürlich!). Lesen im Gehen. Lesen beim Schlangestehen, lesen auf der Parkbank, lesen im Zug und sich dabei über Verspätungen freuen, da dies mehr Lesezeit bedeutet. Lesen im Flugzeug, auf der Rückbank eines Autos während einer sechsstündigen Fahrt. Immer. Überall.

Lesen in allen Formen: Gedruckte Bücher, die bereits im Frühjahr erschienen sind. Vorab-Exemplare, Manuskript-Ausdrucke, Bücher auf dem E-Reader oder in iBooks auf dem Rechner. Noch nie in meinen Leben habe ich so viel und so intensiv gelesen, wie in den letzten Monaten – und es ist noch lange nicht vorbei. Das fühlt sich momentan so an, als sei man komplett abgetaucht in einem Meer aus Literatur und würde dabei das Geschehen der Außenwelt nur noch gedämpft wahrnehmen; sei es das peinliche Politik-Kasperletheater unserer Bundesregierung oder die Fußball-Weltmeisterschaft in einem Land, das in Europa Krieg führt und in dem kritische Journalisten eingesperrt werden. Das alles ist fast ganz ausgeblendet, nur ab und zu beim Auftauchen und Luftholen prasselt der Irrsinn geballt auf einen ein. Wobei das nicht ganz stimmt, denn natürlich spiegeln sich die Fragen und Probleme unserer Zeit immer auch in der Literatur wider, sind die Romane, mit denen wir uns beschäftigen ein Abbild der Zeit, in der wir leben.

Die Frage, von welchen Büchern ich gerade spreche – die darf ich allerdings nicht beantworten. »Streng vertraulich« steht auf allen Unterlagen, die wir ausgehändigt bekommen haben. Auch die kurzen Expertisen, die wir zu jedem Buch verfassen und die in einer Gesamtübersicht zusammengeführt werden, sind vertraulich. Aber so viel kann ich verraten: Es ist faszinierend zu sehen, wie schon in dieser Phase der Juryarbeit Meinungen übereinstimmen, aber auch vollkommen unterschiedlich sein können. Erste Diskussionsansätze sind in der Bewertungsübersicht bereits abzulesen, bevor am 23. Juli die Longlistsitzung stattfindet, in der sich sieben Personen auf zwanzig Bücher einigen müssen.

Zwanzig von etwa zweihundert. Und diese zwanzig Titel der Longlist werden dann am 14. August um zehn Uhr vormittags bekanntgegeben.

Es verspricht spannend zu werden. Gar nicht erst zu reden von der Shortlistsitzung und der Auswahl des Siegertitels am Ende. Aber das dauert noch ein bisschen.

Ich bin dann mal wieder weg, abtauchen und weiterlesen.

Und gerade fällt mir auf: »Abtauchen« war hier schon einmal Thema, aber damals bezog sich das auf ein, zwei Tage. Literarisches Abtauchen über Wochen und Monate hinweg ist eine neue Erfahrung. Eine, die sich gut anfühlt. Eine, die schon fast süchtig macht.

13 Antworten auf „Abgetaucht im Literaturmeer“

  1. Ich hoffe, dass auch ein wenig Zeit für den literarischen Genuss bleibt. Nach einiger Zeit werden sich sicher Ermüdungserscheinungen einstellen, und man verliert das nötige Gespür. Zweihundert Bücher sind einfach nicht zu schaffen. Ich würde vermutlich erstmal damit anfangen, zwei Stapel zu machen: Bücher, die ich auf jeden Fall lesen werde, und Bücher, bei denen es schnell klar ist, dass es sich nicht lohnt. Bei 200 Büchern immer noch eine Herausforderung. — Auf jeden Fall Dankeschön für die Mühe! Nach dem Marathon ist dann wieder die Entdeckung der Langsamkeit angesagt …

  2. Hallo,

    ein spannender Blick hinter die Kulissen! Den ganzen Tag lesen wäre normalerweise ein Traum, aber so geballt und am Fließband – Respekt, ich wüsst wahrscheinlich schon bald nicht mehr, wo mir der Kopf steht, geschweige denn, dass ich etwas Kluges zum Gelesenen sagen könnte.

    Im Moment fühle ich mich wie ein Kind vor Weihnachten: 4 Tage bis zur Longlist!!

    LG,
    Mikka

  3. Lieber Uwe,
    das klingt nach einer wirklich einmaligen und großartigen Erfahrung! Ich stelle es mir aber auch wirklich anstrengend vor, unter so viel Druck zu lesen…hast du denn die Möglichkeit nach dem Ende der Buchpreisvergabe einen tieferen Einblick in diese Zeit zu geben? Mich würde es sehr interessieren, welche Bücher du alles gelesen hast, welche deine ganz persönlichen Favoriten waren, die es vielleicht nicht ganz so weit geschafft haben, wie eure Diskussionen über die einzelnen Titel abgelaufen sind. Du merkst, meine Neugierde ist groß und ich bin gespannt, auf die Longlist, die ihr zusammenstellt.
    Liebste Grüße!

  4. Danke, dass du kurz aufgetaucht bist! So spannend, was diese Juryarbeit bedeutet! Ich hoffe, du bist immer so positiv. Ich könnte mir trotz aller Bücherliebe doch vorstellen, dass die Luft da unten schon mal knapp wird. ????

    Liebe Grüsse voller Vorfreude auf den 14.8.
    Eliane

  5. Hallo Uwe,

    wie bei den anderen Kommentaren anklingt, so möchte ich nicht unbedingt tauschen. Und doch klingt es wie ein Traum, sich durch so viel Stoff zu arbeiten, diesen zu verarbeiten und die für sich besten Romane zu filtern. Weiterhin viel Spaß und Kraft bei deiner Aufgabe.

    Liebe Grüße
    Marc

  6. Wow, krass. Kann man das wirklich, quasi bibliophag ;) ein Buch nach dem anderen? Das ist bestimmt schwer. Ich könnte es wohl nicht. Ich hänge ja gerade wieder an einem, dessen Eindruck ich nicht gleich durch die nächste Lektüre verweht haben möchte. Dann wünsche ich weiter gute Lektüre und ziehe den Hut vor diesem Kraftakt. LG, Bri

  7. Bei aller Anstrengung ist das sicher eine großartige Erfahrung, die du nie vergessen wirst. Schön, dass du uns daran teilhaben lässt. Bin schon wahnsinnig gespannt auf die Longlist am 14.08.

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