Angststaat, aus Asche geboren

Yali Sobol: Die Hände des Pianisten

Diesmal war es verdammt knapp. Tel Aviv ist schwer zerstört, Tausende Menschen sind im Krieg gestorben und nur im letzten Moment konnte die israelische Armee die völlige Katastrophe verhindern. Danach hat sie umgehend die Macht übernommen, um das Land wieder zu stabilisieren, eine zivile Regierung existiert nicht mehr, Generalmajor Meni Schamai herrscht mit seiner Militärjunta über das Land. Das ist die Ausgangslage des Romans »Die Hände des Pianisten« von Yali Sobol, dessen Handlung in einer nahen Zukunft angesiedelt ist, »nach dem letzten Krieg«, und das könnte jederzeit sein.

Ist das ein Roman über den Nahost-Konflikt? Eigentlich nicht. Israel ist lediglich eine Metapher, es geht vor allem darum zu erzählen, wie schnell sich in einem Land im Ausnahmezustand totalitäre Strukturen verfestigen können und was dies mit den Bewohnern, den Menschen macht. Da Yali Sobol ein israelischer Autor ist, wählte er sein Heimatland als Beispiel, verständlich, handelt es sich doch um ein von Feinden umgebenes Land, das stets sehr nahe an eben diesem Ausnahmezustand entlangschrammt. Und dessen politische Strukturen immer weiter verkrusten, wie der Streit um das Nationalstaatsgesetz dramatisch zeigt.

Wir begegnen im Laufe der Handlung sehr unterschiedlichen Personen. Im Mittelpunkt steht dabei das Ehepaar Joav und Chagit Kirsch, Anfang dreißig, die den verheerenden Krieg außerhalb Tel Avivs überstanden haben und sich nun mit den völlig veränderten Lebensbedingungen arrangieren müssen. Joav ist der titelgebende Pianist, talentiert, aber nur mäßig erfolgreich. »Er war jetzt im schwierigsten Alter für einen Pianisten – mit über dreißig hatten die preisdotierten Wettbewerbe aufgehört und der Überlebenskampf begonnen. Abgesehen von den wenigen Auserwählten, die einen der sieben großen Wettbewerbe gewannen, waren dies für alle Übrigen schicksalhafte Jahre, letzte Gelegenheit für einen verspäteten Sonnenaufgang«. Eigentlich steht seine Pianistenkarriere kurz vor dem Aus, da die Militärregierung die Ausreise der Bürger nur mit Ausnahmegenehmigung gestattet. Israel ist dabei, ein völlig abgeschotteter Staat zu werden und Joavs Musikerdasein bleibt dabei auf der Strecke. Denn in den stark beschädigten Städten und dem verwüsteten Land ist es für einen Konzertpianisten schwer, von seiner Kunst leben zu können.

Chagit, Joavs Frau, hält mit ihrem Job das Ehepaar über Wasser. Sie ist Cutterin bei einem Fernsehsender, wobei ihre Arbeit zunehmend von der Zensurbehörde des ÜOK beaufsichtigt wird, des Übergangsoberkommandos, wie die Militärregierung offiziell heißt. Ausreiseverbote, Zensurbehörde, Überwachung: Als Leser erfahren wir nach und nach wie die demokratischen Grundrechte in dem traumatisierten Land außer Kraft gesetzt sind. Das Leben kehrt zwar langsam zurück, die Trümmer werden abgeräumt, aber die Menschen leben in einem anderen Israel als vor dem Krieg.

Eine weitere Person betritt in die Handlung, Oberinspektor Itzik Levi, ein prinzipientreuer Polizist, der viel Zeit auf dem Abstellgleis verbracht hatte, weil er gegen die falschen Leute ermittelte. Auch das war vor dem Krieg. Jetzt, unter der Militärregierung wird er für eine neue Aufgabe herangezogen. Er soll eine Ermittlungsstelle aufbauen, die gegen antiisraelische Aktivitäten vorgeht und zu diesem Zweck vor allem Personen der linken Opposition überprüfen sowie Künstler und Intellektuelle unter die Lupe nehmen. Er selbst ahnt es noch nicht, aber wir als Leser merken schnell, dass hier die Keimzelle einer Geheimpolizei entsteht, einem Überwachungsinstrument gegen das eigene Volk. Oder, um es auf den Punkt zu bringen: Übertriebenes Sicherheitsdenken wird die Grundrechte aushebeln, nicht nur in diesem fiktiven Israel. Schon bald erhält er Verstärkung, und einer seiner neuen Mitarbeiter, Eres Wilner, erweist sich als ein Meister der verschärften Verhörtechnik, erst subtil, aber mit wachsender Machtfülle zunehmend sadistischer.

Außerdem treffen wir Usi Segal, einen reichen und arroganten Reeder, der sich als Mäzen aufspielt und Joav unter seine Fittiche nimmt, auf Raja Melnik, eine alte Frau, Witwe und eine Art mütterliche Freundin von Chagit. Und Daniel Ben-Dor, einen Journalisten, ein Kollege von Chagit. Er erhält einen USB-Stick zugesteckt, auf dem sich solch brisantes Material befindet, dass dessen Veröffentlichung die Person von Generalmajor Meni Schamai enorm beschädigen würde. Doch auch die Militärregierung weiß von diesem USB-Stick und ist hinter ihm her. Alle Zeitungs- und Fernsehredaktionen werden durchsucht und Ben-Dor steckt den Stick Chagit zu, die ihn versteckt, in einer Art Trotzreaktion gegenüber der Willkür staatlicher Organe. So wie jeder Bürger eines demokratischen Staates zu Recht der Meinung ist, sich von eben jenen staatlichen Organen nicht alles gefallen lassen zu müssen. Nur ist das Israel dieser Geschichte kein demokratischer Staat mehr. Und die Militärregierung hat die Schwelle zur Militärdiktatur schon längst überschritten.

Im Folgenden beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, wobei die Katze in Form der staatlichen Behörden immer aggressiver ihre Krallen ausfährt. Die Personen der Handlung bewegen sich unaufhaltsam aufeinander zu, im Mittelpunkt stehen ihre jeweiligen Gedanken, Gefühle und ihre Dialoge. Alles erinnert ein wenig an ein Theaterstück, aber nicht auf einer Bühne sondern vor der einschüchternden Kulisse des halbzerstörten Tel Avivs. Das Drama nimmt seinen Lauf, um die Wahrheit geht es dabei nicht mehr. Und wir Leser erleben fassungslos, wie aus kleinen Unachtsamkeiten eine Tragödie wird, wie sich das Misstrauen zwischen den Menschen einnistet, wie ein Staat zum Unrechtsstaat mutiert, Rechte keine Bedeutung mehr haben und die Angst zu regieren beginnt. Und wie schnell das alles geht. Der Roman erinnert einen daran, in was für einem freien Land wir leben. Sicher gibt es auch hier viel zu kritisieren, aber dies zu dürfen ist eine enorme Freiheit, die nicht selbstverständlich ist.

Keine leichte Lektüre also, aber ein beeindruckendes Buch, über dessen Titel ich eine ganze Weile gegrübelt hatte. Bis ich auf Seite 279 angekommen war. Da hatte ich ihn verstanden.

Buchinformationen
Yali Sobol, Die Hände des Pianisten
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Verlag Antje Kunstmann
ISBN 978-3-88897-926-2 

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