Humphrey Bogart im Drohnenland

Tom Hillenbrand: Drohnenland

Vor hundert Jahren sind Europas Armeen gegeneinander in den Krieg gezogen und das war erst der Beginn einer beispiellosen Gewaltspirale. Vor diesem Hintergrund mag man die Europäische Union als einen friedensstiftenden Fortschritt betrachten. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Bürokratiemonster, dessen politische Entscheidungen zunehmend von den Lobbyisten der Industrie geprägt sind. Ein schönes Beispiel war hier die Abschaffung der Glühbirne: Nicht nur, dass Energiesparleuchten Giftstoffe enthalten, sondern viel unerträglicher ist es, dass es per Gesetz keine Alternative mehr dazu gibt. Mit Umweltschutz hat das nur am Rande zu tun. Aber ich schweife ab, denn eigentlich soll es hier nicht um Glühbirnen gehen, sondern um Drohnen, genauer gesagt um das Buch »Drohnenland« von Tom Hillenbrand. Es spielt in der Zukunft, etwa im Jahr 2050, und sollte die darin beschriebene EU jemals Wirklichkeit werden, würden wir uns alle das Bürokratiemonster von heute zurückwünschen.

Tom Hillenbrand entwirft in seinem Buch eine düstere Zukunftsvision, in der sich die Welt dramatisch gewandelt hat. Die USA spielen nur noch eine marginale Rolle, die großen Weltmächte sind China und Brasilien. Der nahe Osten existiert nicht mehr, er ist in einem Atomkrieg untergegangen, viele Flüchtlinge aus dieser Region leben in der EU. Denn die Europäische Union ist der dritte große globale Player, die 38 Mitgliedstaaten werden zentral von Brüssel aus regiert. Süditalien und Südspanien gehören nicht mehr dazu, aus Holland ist eine Sumpflandschaft geworden, sofern es nicht ganz im Meer versunken ist, Orte wie der  völlig abgesoffene Hamburger Hafen mit den Ruinen der Hafencity mitten im Wasser sind nicht wiederzuerkennen. Das reichste Land ist Portugal, das ein Vermögen durch seine Wellenkraftwerke verdient, denn irgendwoher muss der immense Energiebedarf gedeckt werden. Öl wird dazu nicht mehr benötigt und die elektrisch angetriebenen Autos fahren per programmierbarem Autopilot. Eine weitere wichtige Energiequelle sind die riesigen Solarfelder in den nordafrikanischen Staaten, offiziell assoziiert mit der EU, de facto in den Solarkriegen gefügig gemachte EU-Kolonien. Und ein weiteres Detail am Rande: Das Klima ist gekippt, eigentlich regnet es die ganze Zeit.

Das ist das Europa der Zukunft, perfekt abgeschottet nach außen, perfekt überwacht nach innen. Die Überwachung wird durch den rigoros agierenen Geheimdienst Récupération de Renseignements, kurz RR,  durchgeführt, aber natürlich gibt es auch Europol als europaweite Polizeitruppe. Zu ihr gehört auch Kommissar Aart van der Westerhuizen und das Buch beginnt stilecht in einer verregneten, grauen Morgendämmerung auf einem trostlosen Acker irgendwo im Brüsseler Umland, darauf eine Leiche, erschossen. Westerhuizen und seine Analystin Ava Bittman besichtigen den Tatort. Allerdings nicht in der Realität, sondern in einer Spiegelung. Denn Ermittler müssen in der Zukunft nicht mehr ihr Büro verlassen, die überall gegenwärtigen Drohnen oder Datensammler in Smartwachtes, Specs (eine Art Datenbrille) und sonstigen technischen Gerätschaften können anhand ihrer Aufzeichnungen jedes Szenario exakt nachstellen. Jeder trägt irgendein datensammelndes Gerät mit sich, wer es ausschaltet macht sich automatisch verdächtig. Die Ermittler betreten diese gespiegelte, virtuelle Welt mit Hilfe des Tiefschlafmittels Hypnoremerol und Elektroden nur durch ihr Gehirn. Und mit Hilfe von Terry, eines Supercomputers der Polizei, der die Datenmengen koordiniert. Der Geheimdienst RR geht technisch noch einen Schritt weiter, unzählige insektengroße Spionagedrohnen bilden jede Umgebung in Echtzeit ab und der Agent kann als Ghost quasi neben den zu überwachenden Personen sitzen und sie bespitzeln. An dieser Stelle musste ich unwillkürlich neben mich schauen.

Aber zurück zum verregneten Acker. Westerhuizen beginnt mit seinen Ermittlungen, sie führen ihn bald auch auf eine Spur, es kommt zu einer dramatischen Verhaftungsaktion. Fall erledigt. Dann aber landet er halb zufällig noch einmal auf dem Acker, wo alles begann. Diesmal aber auf dem echten, der im realen Leben genauso trostlos aussieht. Sich aber in einem wesentlichen Punkt von der Spiegelung unterscheidet. Die Tragweite dieser Entdeckung ist sofort klar: Wie können diese Daten manipuliert worden sein? Und vor allem, wer kann sich in den absolut sicheren Polizeicomputer Terry hineingehackt haben? Gibt es möglicherweise noch andere Fälle, bei denen das gemacht wurde? Westerhuizen ermittelt weiter. Aber diesmal auf die altmodische Art.

»Es ist wie bei Autos. Bei den alten Karren, da konntest du noch alles selbst einstellen. Ich hatte früher diesen uralten Golf, Baujahr 2019. Da konntest du dein Tablet einstöpseln und die Ventilsteuerung modifizieren oder den Reifendruck individuell einstellen. Man konnte sogar die Motorhaube öffnen. Bei den heutigen Modellen ist nicht nur die Haube zugeschweißt, auch alle Schnittstellen sind zu. Niemand weiß, was drinnen vorgeht.« Er weiß nicht, wen oder was er sucht, aber bald wird er selbst zur Zielscheibe. Und plötzlich ergibt alles einen Sinn.

Es ist der uralte Krimiplot vom Jäger, der zum Gejagten wird. Er funktioniert immer wieder, so auch hier. Aber viel interessanter als die eigentliche Story ist die Vision unserer nicht allzu fernen Zukunft, die EU als postdemokratischer Überwachungsstaat in einer aus den Fugen geratenen Welt. Damit spielt der Roman, es gibt ständig Andeutungen, Halbsätze über politische Entwicklungen, die Zukunft ist permanent in der Handlung präsent, ohne sie zu dominieren. Gleichzeitig wirkt Kommissar Aart van der Westerhuizen mit seiner Vorliebe für Humphrey-Bogart-Filme selbst wie aus einem Noir-Krimi entsprungen: Wurzellos, wortkarg, aber schlagfertig, alleine, mit einer traurigen Vergangenheit. Eine reizvolle Mischung. Und die beklemmende Beschreibung einer Zeit, in der die Privatsphäre abgeschafft sein wird. Die gar nicht so weit entfernt ist, wie wir denken: »Sie zuckt mit den Achseln und setzt jenen verständnislosen Gesichtsausdruck auf, den junge Leute immer aufsetzen, wenn alte Menschen sich über Eingriffe in ihre Privatsphäre ereifern.«

Irgendwie kommt einem das bekannt vor.

Dies ist ein Titel des aus einer Twitter-Idee entstandenen Leseprojekts Schöne neue, paranoide Welt.

Buchinformation
Tom Hillenbrand, Drohnenland
Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-04662-5

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6 Antworten auf „Humphrey Bogart im Drohnenland“

  1. Ufff, düster. Und vielleicht eine Spur zu nah an der Realität, um unterhaltsam zu sein? Schon bei der Beschreibung wird mir ganz mulmig. Aber es klingt auf jeden Fall spannend. Direkt nachdem ich den Herrn Pérez-Reverte aufgetrieben habe, der gerade schwer zu haben spielt. ????

    1. Ja, manchmal hat man das Gefühl, die Realität hole einen beim Lesen ein. Aber spannend ist es, sehr sogar.
      Und das die Bücher von Pérez-Reverte nur noch so schwer aufzutreiben sind, ist ein echter Verlust und mir unverständlich. Bin gespannt, wie sie Dir gefallen.

  2. Sie werden heute ein wenig mehr Besuch bekommen, da ich in meinem Blog Ihre Buchbesprechung lobend erwähne. Ich hoffe, es wird alles gelesen, nicht nur die beiden letzten Sätze!

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