Feiernd in den Untergang

Joseph Roth: Radetzkymarsch

Genau heute vor 100 Jahren, am 28. Juni 1914, wurde in Sarajevo der Lauf der Weltgeschichte verändert. Der Attentäter Gavrilo Princip, Mitglied der serbischen Terrororganisation Schwarze Hand, feuerte zwei Schüsse auf den Thronfolger der österreichisch-ungarischen Monarchie und seine Gemahlin ab und tötete beide. Dieser Mordanschlag löste einen verheerenden Kreislauf aus, der das alte Europa in einen furchtbaren Krieg und in den Untergang führen sollte.

Dabei war diese Entwicklung direkt nach dem Attentat noch gar nicht abzusehen, die Eskalation erfolgte stufenweise und hätte jederzeit gestoppt werden können, wie Christopher Clark in seinem Buch »Die Schlafwandler« eindrucksvoll dargelegt hat. Aber dies geschah nicht und so drehte sich das Karussell der Schuldzuweisungen, Bündnisverpflichtungen und Ressentiments immer schneller. Bis nach den ersten Mobilmachungen der Lauf der Dinge nicht mehr aufzuhalten war.

Aber wie gesagt, als die Nachricht über das Attentat sich in Europa verbreitete, ahnte noch kaum jemand, was auf den Kontinent zukommen sollte. Kaum jemand hat diesen Moment eindrucksvoller beschrieben als Joseph Roth in seinem großartigen Roman »Radetzkymarsch«, in dem es um letzte Aufbäumen und den Untergang der Donaumonarchie und ihrer gesellschaftlichen Ordnung geht. Deshalb möchte ich heute, 100 Jahre nach den dargestellten Ereignissen, die Schlüsselstelle dieses Buches zitieren.

Leutnant von Trotta, der Protagonist der Handlung ist in einem abgelegenen Ort in der Nähe der russischen Grenze stationiert. Er und seine Offizierskollegen langweilen sich die meiste Zeit, trinken zu viel, spielen zu viel und leben ein Leben voller dekadenter Ausschweifungen, um sich die Zeit irgendwie zu vertreiben. So wird auch am Abend des 28. Juni 1914 ein Ball gegeben, draußen zieht ein Gewitter auf, der Himmel verdüstert sich und mitten hinein in die Feier platzt die Nachricht über das Attentat.

»Trotta wandte sich zur Tür. In diesem Augenblick wurde sie aufgestoßen. Viele Gäste strömten hinein, Konfetti und Papierschlangen auf Köpfen und Schultern. Die Tür blieb offen. Man hörte aus den anderen Räumen die Frauen lachen und die Musik und die schleifenden Schritte der Tänzer. Jemand rief:
›Der Thronfolger ist ermordet!‹
›Den Trauermarsch!‹ schrie Benkyö.
›Den Trauermarsch‹ wiederholten mehrere.
Sie strömten aus dem Zimmer. In den zwei großen Sälen, in denen man bis jetzt getanzt hatte, spielten beide Militärkapellen, dirigiert von den lächelnden, knallroten Kapellmeistern, den Trauermarsch von Chopin. Ringsum wandelten ein paar Gäste im Kreis, im Kreis, zum Takt des Trauermarschs. Bunte Papierschlangen und Koriandolisterne lagen auf ihren Schultern und Haaren. Männer in Uniform und in Zivil führten Frauen am Arm. Ihre Füße gehorchten schwankend dem makabren und stolpernden Rhythmus. Die Kapellen spielten nämlich ohne Noten, nicht dirigiert, sondern begleitet von den langsamen Schleifen, die der Kapellmeister schwarze Taktstöcke durch die Luft zeichneten. Manchmal blieb eine Kapelle hinter der anderen zurück, suchte die vorauseilende zu erhaschen und musste ein paar Takte auslassen. Die Gäste marschierten im Kreis rings um das leere, spiegelnde Rund des Parketts. Sie kreisten so umeinander, jeder ein Leidtragender hinter der Leiche des Vordermanns und in der Mitte die unsichtbaren Leichen des Thronfolgers und der Monarchie. Alle waren betrunken. Und wer noch nicht genug getrunken hatte, dem drehte sich der Kopf vom unermüdlichen Kreisen. Allmählich beschleunigten die Kapellen den Takt, und die Beine der Wandelnden fingen an zu marschieren. Die Trommler trommelten ohne Unterlaß, und die schweren Klöppel der großen Pauke begannen zu wirbeln wie junge, muntere Schlegel. Der betrunkene Pauker schlug plötzlich an den silbernen Triangel, und im selben Augenblick machte Graf Benkyö einen Freudensprung. ›Das Schwein ist tot!‹ schrie der Graf auf ungarisch. Aber alle verstanden es, als ob er deutsch gesprochen hätte. Plötzlich begannen einige zu hüpfen. Immer schneller schmetterten die Kapellen den Trauermarsch.«

Es ist unnachahmlich, wie Joseph Roth diese morbid-ausgelassene Stimmung schildert. Der Thronfolger war nicht sonderlich beliebt, bei den Ungarn sogar regelrecht verhasst, und kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, wegen dieses Attentats in den Krieg zu ziehen. Und so feierten sie weiter und tanzten und wussten doch irgendwie, dass ihre Zeit abgelaufen ist. Ein Stück großer Literatur.

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.

Buchinformation
Joseph Roth, Radetzkymarsch
dtv
ISBN 978-3-423-12477-5

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4 Antworten auf „Feiernd in den Untergang“

  1. Schon zum zweiten Mal heute stoße ich hier in WordPress auf Joseph Roth, einen Autor, den ich auch sehr gern mag. Den Roman „Radetzkymarsch“ habe ich noch nicht gelesen, seltsamerweise – danke für die Anregung und die Besprechung!

  2. Joseph Roth ist einer der Autoren, die man immer lesen kann. Und wenn es dann noch so passend ist – umso besser.
    „…jeder Leidtragende hinter der Leiche des Vordermanns…“ da wird ja das Elend des kommenden Krieges schon vorweg genommen, der Eine folgt dem Anderen in den Tod, gehen müssen sie aber alle, angetrieben von den -hier noch- Trommeln, später dann Kanonen.

    1. Ja, Joseph Roth ist einer der ganz großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, ich mag seine Bücher auch sehr gerne. Und immer wieder aufs Neue.

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