West. Ost. Konflikt

Verdun und Ober Ost: Facetten des Ersten Weltkriegs

Den Ersten Weltkrieg assoziiert man gemeinhin mit Bildern von völlig verwüsteten Landschaften, durchzogen von Gräben, durchlöchert von Granateinschlägen. Dies ist aber nur eine Facette. Wie viele andere es gab, wird mir immer klarer, denn die hundertjährige Wiederkehr des Kriegsausbruchs nehme ich zum Anlass, mich intensiv mit der Thematik zu beschäftigen. Aus den zahlreichen Büchern, die es momentan über den Ersten Weltkrieg gibt, habe ich mir ein Leseprojekt zusammengestellt und bin dabei, immer tiefer in diese Epoche einzutauchen, die prägend für das gesamte 20. Jahrhundert war – und damit auch für die Welt, in der wir heute leben. 

1914 war das deutsche Kaiserreich in einer selbst verschuldeten und denkbar ungünstigen Ausgangssituation und musste im Westen wie auch im Osten Krieg führen. Wie es genau dazu kam, schildert Christopher Clark meisterhaft in seinem Werk Die Schlafwandler. Für die Geschehnisse nach Ausbruch des Krieges habe ich zwei Sachbücher in die Leseliste mit  aufgenommen, die thematisch für jeweils eine der beiden Himmelsrichtungen stehen. Zum einen »Verdun 1916« von Olaf Jessen und zum anderen »Kriegsland im Osten« von Vejas Gabriel Liulevicius.

1916 war die Front im Westen erstarrt, über hunderte von Kilometern lagen sich die Heere in Schützengräben gegenüber. Der Plan des deutschen Generalstabs, federführend von Erich von Falkenhayn in die Wege geleitet, sah vor, an einer Stelle einen massiven Angriff zu führen, sich eine befestigte Stellung zu sichern, den Gegner bei dessen Gegenangriffen zu dezimieren. Anschließend sollte der endgültige und kriegsentscheidende Durchbruch erfolgen. Der Ort dafür war bald ermittelt, am 21. Februar 1916 begann der deutsche Angriff auf die Festungsanlagen rund um Verdun, ein Städtchen an der Maas. Nach ersten Erfolgen geriet der Angriff ins Stocken und blieb letztendlich liegen, das französische Oberkommando schickte Verstärkungen, es gab auf beiden Seiten kein Vor und Zurück mehr. Eine Pattsituation. Und dann entbrannte eine der entsetzlichsten Schlachten der Geschichte, bei der es letztendlich vor allem um die öffentliche Meinung in der Heimat ging: Die eine Seite konnte Verdun nicht aufgeben und die andere Seite konnte sich nicht auf die Ausgangsstellungen zurückziehen, ohne in der öffentlichen Wahrnehmung das Gesicht zu verlieren. Und das kostete Tausenden von Soldaten das Leben.

Mit Hilfe zahlreicher Augenzeugenberichte schildert Jessen anschaulich die strategischen Überlegungen, den Ablauf der dramatischen Ereignisse, die Verwandlung des festgefahrenen deutschen Durchbruchversuchs in eine unerbittliche Materialschlacht. Und das völlige Versagen der Kommandostruktur des deutschen Heeres. Besonders perfide agierte von Falkenhayn: Als sich abzeichnete, dass aus dem angestrebten Durchbruch nichts werden würde, erklärte er, dass er es genau so geplant habe, um die Franzosen »auszubluten«. Damit wollte er seine auf ganzer Linie gescheiterte Strategie nachträglich als Zermürbungsschlacht tarnenm. Zynischer geht es kaum, denn wir erfahren recht detailliert, wie das »Ausbluten« aussah.

»Über der Gegend lastet Verwesungsgestank. Weht der Wind aus ungünstiger Richtung, schlägt den Soldaten beim Anmarsch schon kilometerweit vor der Kampfzone ein süßlich-beißender Geruch entgegen. Tierkadaver, Leichen und Leichenteile, auf fast jedem Quadratmeter des Schlachtfelds verstreut, werden durch die Einschläge von Granaten immer wieder umgewühlt, zerteilt und verkleinert. Tote überall: Man findet sie in die Grabenwände eingebettet, Köpfe, Beine und größere Stücke, wie sie die Arbeitskommandos gerade mit Pickel und Spaten aus dem Weg geschaufelt haben.«

Wie können sich Menschen nur so etwas gegenseitig antun? Diese Frage hat Gültigkeit bis heute, aber Verdun ist das Symbol für die Sinnlosigkeit des Krieges schlechthin geworden. Man hat immer eine Ahnung davon, warum das so ist. Nach diesem Buch weiß man es.

Viele Kilometer weiter östlich war die Situation eine völlig unterschiedliche, wie in einer anderen Welt. Trotz einer gewaltigen zahlenmäßigen Überlegenheit wurden nach anfänglichen Erfolgen die schlecht ausgerüsteten Soldaten des russischen Zaren immer weiter zurückgedrängt. Einen Stellungskrieg wie im Westen, wo wenige Quadratkilometer erbittert umkämpft waren, gab es im östlichen Kampfgebiet nicht. Im Verlauf der Jahre 1915 und 1916 eroberte und besetzte das deutsche Heer den polnischen Teil Russlands, Kurland und Litauen. In dem sehr lesenswerten Buch »Kriegsland im Osten« beschreibt der Autor Vejas Gabriel Liulevicius nicht den militärisch-strategischen Verlauf des Krieges im Osten sondern vielmehr die deutsche Besatzungspolitik. Und das ist ein hochinteressantes Thema, zu dem kaum Literatur existiert.

Die deutschen Eroberer versuchten, in den besetzten Gebieten ein eigenes Staatswesen zu etablieren. Losgelöst von den politisch Verantwortlichen im Kaiserreich entstand hier der Militärstaat Ober Ost mit einer Fläche von über 100.000 km², ein riesiges Gebiet, das komplett vom Militär verwaltet und in sechs Bezirke aufgeteilt wurde. Auf die vielfältige und unterschiedliche ethnische Zusammensetzung der Bewohner wurde keinerlei Rücksicht genommen, Ziel war es, das Land einer neugeschaffenen Ordnung zu unterwerfen, es so weit wie nur möglich militärisch auszubeuten und es letztendlich dem deutschen Staatsgebiet hinzuzufügen. Diese restrikitive Besatzungspolitik, federführend von Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, den Oberkommandierenden der Ostfront, initiiert, war nichts anderes als die Kolonisierung einer als unterentwickelt angesehenen Region. Einen informativen Überblick über die Verwaltung und Ziele der Besatzung von Ober Ost findet man auf Wikipedia.

Anhand zahlreicher Quellen schildert Liulevicius, wie die Eroberer mit ärmlichen, archaisch anmutenden ländlichen Strukturen konfrontiert wurden und sich  angesichts der empfundenen Rückständigkeit schnell als überlegene Kulturnation fühlten. »Schmutz wurde zum Symbol für den Zustand des Landes und seiner Bevölkerung vor der Umgestaltung durch ›deutsche Arbeit‹. Auch die ethnische Komplexität, die chaotische Mischung von Sprachen, Völkern, Religionen und historischen Hintergründen gab dem ganzen Gebiet etwas Schmutziges und Ungeordnetes. Diese ersten Eindrücke von schmutzigen Ländern und Völkern verfestigten sich zu einer dauerhaften Vorstellung vom ›schmutzigen Osten‹.« 

Solche Gefühle und die damit verbundenen Erlebnisse waren prägend für Tausende von Soldaten, Offizieren und verantwortlichen Planern. Und sie wirkten in den Köpfen nach, auch als der Krieg längs verloren war. Der diffuse Traum vom »Lebensraum im Osten« nahm dort seinen Anfang und sollte noch für eine unselige Fortsetzung sorgen. »Der Militärstaat Ober Ost schien ein wachsender Organismus zu sein. Die Besatzer konnten sich nicht einfach niederlassen und zur Ruhe kommen. Die geistige Landkarte war in Bewegung und lenkte ihre Aufmerksamkeit und ihre Energien immer weiter ostwärts.«

Beide vorgestellten Bücher hängen eng miteinander zusammen: Nach dem Desaster von Verdun musste von Falkenhayn als Chef der Obersten Heeresleitung zurücktreten. Seine Nachfolger wurden Hindenburg und Ludendorff, die sich im Osten bereits ihr eigenes Reich aufgebaut hatten. Die bisher sowieso kaum vorhandene politische Kontrolle der Kriegsführung wurde damit endgültig und komplett ausgehebelt. Das unselige Gespann agierte fortan nicht nur in Ober Ost de facto als Militärregierung, sondern riss ganz Deutschland in einem atemberaubenen Vabanque-Spiel mit in die Tiefe. Nur die Verantwortung für den katastrophalen Ausgang des Kriegs delegierten sie wieder an die Politik zurück.

Es ist faszinierend, mit welchen unheilvollen geschichtlichen Entwicklungen eine einzige Person verbunden ist: Denn 17 Jahre später ernannte Hindenburg, nunmehr demokratisch gewählter Reichspräsident, einen anderen Veteranen des Ersten Weltkriegs, einen einfachen Gefreiten, zum Reichskanzler.

Dies sind zwei Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.

Bücherinformationen
Olaf Jessen, Verdun 1916
Verlag C.H. Beck
ISBN 978-3-406-65826-6

Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten
Aus dem Englischen von Jürgen Bauer, Fee Engemann, Edith Nerke
Hamburger Edition
ISBN 978-3-930908-81-3

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3 Antworten auf „West. Ost. Konflikt“

  1. Das ist ein so interessantes und aufschlussreiches Buch! Meistens hört oder liest man ja nur von der Westfront. „Ober-Ost“ kommt irgendwie nie vor! Eine sehr spannende und aufrüttelnde Lektüre!

  2. Danke für diese Rezension! Denn ich kann jedem nur empfehlen, sich mit dem Thema „Verdun“ auseinanderzusetzen. Verdun liegt nicht weit von uns und macht uns auf schrecklich tragische Art die Sinnlosigkeit von Krieg deutlich. Ich bin mehrfach dort gewesen, über das riesige einstige Schlachtfeld gewandert. Das Brachiale des Krieges wird auch heutzutage – 100 Jahre später – dort in den Wäldern deutlich. Dazu hilft dieses Buch – es ist ein guter Wegbegleiter dort!

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