Tod Einhundertsechsundfünfzig

Christiane Frohmann (Hrsg.), Tausend Tode schreiben

Wir sind von Tod und Vergänglichkeit umgeben. Immer und überall, wohl fast jeder von uns hat seine Erfahrungen mit diesem Thema gemacht. Während meiner Schulzeit war ich zwei Jahre lang Sargträger auf dem städtischen Friedhof, ein makabrer, aber gut bezahlter Nebenjob. Beim achtlosen und durch Musik in den Kopfhörern von der Außenwelt abgeschotteten Überqueren von Bahngleisen wurde ich fast von einem Güterzug überfahren, der nur wenige Sekunden danach hinter mir vorbeidonnerte. Ein Erlebnis, das mir jahrelange Alpträume bescherte. Als Altenpflegehelfer war ich mehrmals dabei, als ein Mensch seinen letzten Atemzug tat; ein Mysterium, denn er war da, noch vor mir, seine Anwesenheit war noch im Raum spürbar und gleichzeitig war er einfach gegangen. Weit weg. Er ist nicht fassbar, dieser Tod und doch allgegenwärtig. Beunruhigend und faszinierend zugleich.

Im August 2014 startete der E-Book-Verlag Frohmann das Projekt »Tausend Tode schreiben«, dass alleine von seinem schieren Umfang her beeindruckend ist. Die Herausgeberin Christiane Frohmann stellt tausend Texte von tausend verschiedenen Menschen zum Thema Tod zusammen und veröffentlicht sie. Das Erscheinen des E-Books ist in mehreren Tranchen geplant, bei jeder Version sind weitere Texte dabei. Die ersten Versionen sind inzwischen erschienen, wer einmal eine Version gekauft hat, bekommt die weiteren als Updates kostenlos geliefert. Versammelt sind Texte aller Art, Prosa und Lyrik, Erfahrungsberichte und Essays, unterschiedliche Sprachen, ein großartiges Textpanorama über den Tod.

Solange E-Books lediglich ein elektronischer Abklatsch eines gedruckten Werkes sind, stehe ich ihnen eher gleichgültig gegenüber. Hier jedoch geschieht etwas völlig Neues, das Projekt »Tausend Tode schreiben« ließe sich als gedrucktes Buch nicht in dieser Form realisieren. Und genau dieses Neue begeistert mich. Da ich die Arbeit Christiane Frohmanns sehr spannend und das Thema faszinierend finde, reichte auch ich ihr einen Text ein. Und so ist es für mich eine große Freude und Ehre, den 156. Beitrag für »Tausend Tode schreiben« beigesteuert zu haben, den 156. geschriebenen Tod. Ich veröffentliche diesen Beitrag hier im Blog ebenfalls, schon alleine, um dieses großartige E-Book-Projekt von ganzem Herzen zu empfehlen; nicht wegen meines Textes, sondern wegen des unglaublich intensiven Leseerlebnisses. Denn der Tod ist mitleidlos, manchmal barmherzig, er ist überraschend, unerwartet, ungerecht, er kann brutal sein oder mild, aber er ist gewiss. Er gehört zum Leben wie die Geburt. Das alles spiegelt sich in den Texten dieses Projekts wider. Dessen kompletter Erlös als Spende an das Berliner Kinderhospiz Sonnenhof geht.

Was hat mich zu dem Text bewegt? Nun, einmal bin ich ihm sehr nahe gekommen, dem Gevatter Tod. Es war im April 1989 und über das Erlebnis damals habe ich schon oft mit Freunden gesprochen, denn es beschäftigt mich seit damals. Aber ich habe es noch nie aufgeschrieben; das war etwas völlig anderes und auch gleichzeitig etwas Befreiendes. Hier ist es.

Als ich am 24. April 1989 das Haus verließ, setzte ich den Kopfhörer auf und schaltete die Musik ein. Das war nichts Außergewöhnliches, denn ohne meinen Sony-Walkman ging ich damals keinen Schritt. Ich liebte dieses Gerät. Im Rucksack machte sich das Gewicht der Bücher bemerkbar, die ich gestern aus der Bibliothek mitgenommen hatte und so überlegte ich kurz, ob ich das Fahrrad aus dem Keller holen sollte. Andererseits war das Wetter perfekt, ein sonniger Frühlingstag; der gesamte Nachmittag lag vor mir, im Walkman steckte ein neues Mixtape, das mir ein Freund aufgenommen hatte und auf das ich sehr gespannt war. Eine kurze Überlegung, mit dem Rad würde ich zehn Minuten für die Strecke benötigen, zu Fuß etwa 45 Minuten. Bei einem Spaziergang würde ich entspannt die neue Musik anhören können. Das Gartentor schepperte, als es hinter mir zufiel und ich machte mich auf den Weg. Zu Fuß. Eine Entscheidung, die ich bis heute bereue.

Ich war auf dem Weg zu meinem Vater. Die Bücher aus der Bibliothek waren für ihn, denn er konnte sie sich nicht selbst ausleihen und ihm war langweilig in seinem Krankenhausdoppelzimmer. Wir hatten schwierige Zeiten hinter uns, wie das eben ist, wenn aus Kindern junge Erwachsene werden, die beginnen, Autoritäten anzuzweifeln. Es waren keine einfachen Jahre gewesen, für uns beide nicht. Jetzt war ich zwanzig, fast mit der Schule fertig und kurz davor, das Zuhause zu verlassen. Er war 54 und hatte Lungenkrebs im Endstadium. Das Krankenhaus lag genau am anderen Ende unserer kleinen Stadt.

Es war eine 90er-Kassette, die ich hörte, so dass die eine Seite genau für die Strecke reichte. 45 Minuten. Als ich das Krankenhaus betrat, schaltete ich das Gerät aus und ging den inzwischen schon vertrauten Weg zum Zimmer meines Vaters, der es sich mit einem älteren, etwas verwirrten Herrn teilte. Der typische Geruch nach Desinfektionsmitteln, Essensausdünstungen und Krankheit umfing mich, als ich an die Türe klopfte und nach einem kurzen Zögern, ohne eine Antwort abzuwarten, den Raum betrat. Mein Vater lag nicht in seinem Bett. Er lag auf dem Boden, einen Fuß noch in die Bettdecke gewickelt, die halb herabgerutscht war. Der ältere, etwas verwirrte Mann im anderen Bett saß aufrecht darin, sah mich an und lachte ein völlig irres, meckerndes Lachen. Die Sonne schien durch das Fenster.

Ich holte eine Krankenschwester. Diese sofort einen Arzt. Die beiden verschwanden im Zimmer, während ich an die Wand gelehnt wartete. Und wusste. Mit ernster Miene reichte mir der Arzt die Hand und sprach mir sein Beileid aus. Dann bin ich nach Hause gelaufen und habe es meiner Mutter erzählt. Für die Strecke brauchte ich wieder 45 Minuten, diesmal ohne Musik. Das meckernde Lachen hatte ich immer noch im Kopf.

Christiane Frohmann (Hrsg.), Tausend Tode schreiben

Buchinformation
Christiane Frohmann (Hrsg.), Tausend Tode schreiben
Frohmann Verlag
ISBN ePub: 978-3-944195-55-1
ISBN mobi: 978-3-944195-56-8

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7 Antworten auf „Tod Einhundertsechsundfünfzig“

  1. Interessant, wie sich manchmal eigene Lebensfäden ähnlich in fremden Biografien wiederfinden. Dein Erleben 1989 kann Ich gut nachempfinden.
    Ich hatte Glück (so empfand ich es damals und sehe es bis heute so), zum Krebstod meines Vaters im Juli 90 kam ich gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus, eine halbe Stunde vorher. Er konnte schon nicht mehr sprechen Und hatte auf einem Zettel notiert, dass seine Schwester und ich kommen sollten.
    Und den 20monatigen ZDL, zum Teil auf Pflege, beendete ich Mai 90.
    Danke fürs Notieren!

  2. Hallo Uwe,

    ich bin gerade beim Stromern durch Deinen Blog zufällig auf diesen Eintrag gestoßen. Und kann einfach nicht schließen, ohne Dir zu sagen, dass Deine Worte sehr bewegend sind. Auch wenn der Tod Deines Vaters schon so lange her ist, möchte ich Dir daher gerne noch sagen, dass es mir sehr leid tut…

    Sonnige Grüße aus dem Ruhrgebiet,
    Andrea

    1. Ja, beim Twittern stößt man auf so einiges, auch für mich immer wieder eine Fundgrube. Vielen Dank für den Besuch hier und viel Spaß beim Festlesen… Freut mich.

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